18.05.2016 - Strassenlärm verursacht hohe Gesundheitskosten und Wertverluste bei Liegenschaften. Wie eine Studie des BAFU zeigt, vermindern die wirksamsten schallschluckenden Beläge die Fahrgeräusche so stark, als wären auf den sanierten Strecken nur noch 15 % des ursprünglichen Verkehrs unterwegs. Als erster Deutschschweizer Kanton lässt der Aargau nun alle Strassen innerorts mit lärmarmen Belägen ausstatten - und will damit auch noch Geld sparen.
Text: Nicolas Gattlen
Der Unterschied ist frappant. Wir stehen am Ortseingang von Dottikon (AG), direkt an der Schnittstelle zweier Strassenbeläge: einem 20 Jahre alten Standardasphalt und einem lärmarmen Belag mit der Fachbezeichnung SDA-4, der im Sommer 2015 eingebaut worden ist. Fast im Sekundentakt fahren an diesem Morgen Personenwagen und Camions mit einem Tempo von etwa 50 Stundenkilometern (km/h) vorbei. Die Autos scheinen auf dem neuen Belag akustisch zu verschwinden, während sie in wenigen Metern Entfernung derart lärmen, dass sich auf dem Trottoir kein normales Gespräch führen lässt. Bei den Lastwagen fällt der Unterschied weniger auf, denn bei einer Geschwindigkeit unter 60 km/h überwiegt der Lärm ihrer Motoren und Getriebe die Abrollgeräusche. Autos mit Baujahr ab 2000 verfügen hingegen über so leise Motoren, dass ihre Abrollgeräusche - je nach Fahrzeug - bereits ab 15 bis 25 km/h dominieren.
Weniger Schalldruck, dumpfere Geräusche
In der Summe führt der SDA-4-Belag zu einer deutlichen Lärmminderung, was seiner feinen Oberflächenstruktur mit Gesteinskörnern von maximal 4 Millimetern Grösse und einem hohen Hohlraumgehalt von mindestens 12 Volumenprozent zu verdanken ist. Hanspeter Gloor, der im Kanton Aargau die Sektion Lärmsanierung leitet, konnte bei Inbetriebnahme des neuen Belags in Dottikon eine Schallreduktion von 7 Dezibel (dB) registrieren. «Dies hat den gleichen Effekt, wie wenn nur noch jedes vierte Fahrzeug unterwegs wäre.» Zudem würden die Abrollgeräusche von den Anwohnerinnen und Anwohnern als weniger störend empfunden, weil sie wesentlich dumpfer sind.
Herkömmliche Strassenbeläge bestehen aus deutlich grösseren Körnern und werden beim Einbau so stark verdichtet, dass sie kaum Hohlräume aufweisen, die einen Teil des Schalls schlucken könnten. Wie neuere Forschungen zeigen, erzielen die wirkungsvollsten lärmarmen Beläge im Neuzustand gegenüber konventionellem Asphalt eine Lärmreduktion von über 9 dB. In der akustischen Wahrnehmung entspricht dies einer Verminderung der Fahrzeuge auf einen Siebtel des effektiven Bestands.
Langzeitmonitoring auf 15 Teststrecken
Allerdings nimmt die schalldämpfende Wirkung mit den Jahren ab. Im Rahmen des Forschungsprogramms «Lärmarme Beläge innerorts» untersucht eine Studie des BAFU und des Bundesamtes für Strassen (ASTRA) den Leistungsabfall verschiedener Belagstypen. Den Forschenden stehen für ihre umfangreichen Messungen 15 Teststrecken an diversen Orten in der Schweiz und 9 Belagstypen mit unterschiedlichen Kornmischungen und Hohlraumgehalten zur Verfügung. Der jüngste Zwischenbericht beziffert den Verlust an akustischer Wirkung im ersten Jahr bei nahezu allen Testbelägen auf 0,5 bis 3 dB, wobei sich die Abnahme in der Folge deutlich verlangsamt.
Auffallend ist die grosse Varianz - selbst bei den gleichen Belagstypen. Bereits im Neuzustand weisen beispielsweise die SDA4-Beläge eine Spanne von -4 bis -8 dB für Personenwagen auf. Dominique Schneuwly, stellvertretender Chef der BAFU-Sektion Strassenlärm macht für diese Leistungsschwankungen verschiedene Faktoren verantwortlich: «Die Belagsmischungen sind zwar normiert, doch der Strassenbau findet draussen und nicht im Labor statt. Deshalb prägen auch das Ausgangsmaterial, die Witterungsverhältnisse beim Einbau sowie Mensch und Maschine das Resultat.»
Wie lässt sich die akustische Alterung verzögern?
Je nach Standort unterliegen die Beläge auch verschiedenen Nutzungen. So werden sie etwa im Berggebiet von Lastwagen und Bussen mit Schneeketten befahren oder an exponierten Lagen eingebaut. An manchen Orten besteht zudem eine erhöhte mechanische Belastung - beispielsweise in Kurven mit engen Radien, vor Ampeln und an Steigungen. «Alle diese Faktoren beeinflussen die akustische Alterung der Beläge», erklärt Dominique Schneuwly. Künftige Forschungsprojekte sollen eruieren, welche Beläge sich für die spezifischen Bedingungen am besten eignen, sodass sie ihre akustische Wirkung möglichst lange bewahren. Ausserdem erprobt die Forschung neue Belagsmischungen und Einbautechniken.
Im Fokus steht dabei auch die Gebrauchsdauer: Aufgrund ihrer feinen Körnung und des grossen Hohlraumvolumens reagieren lärmarme Strassenbeläge nämlich anfälliger auf mechanische Schäden. Auch bei der Besichtigung des sanierten Strassenstücks in Dottikon erkennt Hanspeter Gloor kleinste Mängel: «Da! Sehen Sie die kleine Kerbe? Sie wiederholt sich alle zwei m. Wahrscheinlich war zwischen dem Doppelreifen eines Lastwagens ein Stein eingeklemmt.» Der Laie erkennt die Spuren erst auf den zweiten Blick, während dem Spezialisten mit seiner 35-jährigen Berufserfahrung beim aargauischen Tiefbauamt kein Detail entgeht. Er schätzt, dass man den 4er-Belag nach 10 Jahren erneuern muss. Demgegenüber haben konventionelle Beläge eine durchschnittliche Lebensdauer von 30 Jahren. Hinzu komme, dass der Einbau eines leiseren Belags rund 8 % mehr koste, was jedoch durchaus verkraftbar sei.
Trotz ihrer grösseren Schadenanfälligkeit und der etwas höheren Preise setzt sich Hanspeter Gloor entschieden für die lärmarmen Beläge ein. Im Kanton Aargau werden bei Sanierungen von Innerortsstrassen seit 2015 ausschliesslich schalldämpfende Beläge eingebaut. Verkehrsabschnitte, die besonders viel Lärm verursachen, stattet man mit SDA-4 Belägen aus, die übrigen mit den robusteren, aber auch weniger wirkungsvollen SDA-8-Belägen mit ihrer doppelten Korngrösse. Insgesamt saniert der Kanton Aargau jedes Jahr 10 bis 12 Strassenkilometer und will so seinen gesetzlichen Verpflichtungen nachkommen. Die Lärmschutzverordnung des Bundes verlangt, dass bis Ende März 2018 sämtliche Lärmsanierungen der Haupt- und Nebenstrassen und bereits 2015 auch die Sanierungen der Nationalstrassen abgeschlossen sein sollten.
Lärmminderung an der Quelle ist effizienter
Obschon die öffentliche Hand in den vergangenen Jahren umfangreiche Sanierungen realisiert hat, bleibt der Strassenlärm auch nach 2018 ein dringliches Problem. «Denn die Bevölkerung und ihre Mobilität nehmen stetig zu - ebenso wie die Gütertransporte», sagt Dominique Schneuwly. Gleichzeitig stellt er fest, das Potenzial von Lärmschutzwänden sei weitgehend ausgeschöpft. Insbesondere innerorts liessen sie sich aus technischen Gründen nicht überall einsetzen, und in manchen Gemeinden drohe eine Beeinträchtigung des Ortsbildes. «Ausserdem sind Schutzwände oder Fahrbahnüberdachungen vergleichsweise teuer. Viel effizienter ist es, den Lärm an der Quelle zu vermindern - durch lärmarme Beläge, leisere Reifen, geräuschärmere Fahrzeuge wie Hybrid- oder Elektromobile, aber auch durch Geschwindigkeitsreduktionen und einen vorausschauenden, niedertourigen Fahrstil.»
Auch Hanspeter Gloor stützt sich mitunter auf wirtschaftliche Argumente, wenn er bei Budgetverhandlungen erklären muss, weshalb das Tiefbauamt nun innerorts flächendeckend die teureren lärmarmen Beläge einbauen lässt: «Rechnet man bei den konventionellen Belägen die Kosten für Lärmschutzwände, Schallschutzfenster oder die ab 2018 drohenden Entschädigungszahlungen an Hausbesitzer dazu, so schneiden die leiseren Beläge über einen Zeitraum von 40 Jahren sogar besser ab.» Der Aargau folgt mit seiner Strategie den Westschweizer Kantonen, die innerorts seit 10 Jahren systematisch schallschluckende Beläge einbauen, während in der Deutschschweiz vor allem Lärmschutzwände und Schallschutzfenster montiert werden. Hanspeter Gloor ist zuversichtlich, dass in seinem Kanton bis im Frühjahr 2019 alle Lärmsanierungsprojekte abgeschlossen sind. Auf diesen Zeitpunkt laufen auch die Subventionsfristen des Bundes ab.
Eine Langzeitaufgabe
Trotzdem werden im Aargau auch nach 2019 noch rund 70‘000 Personen - beziehungsweise 22‘000 Wohneinheiten - übermässigem Strassenlärm ausgesetzt sein. «Aus wirtschaftlichen, aber auch technischen Gründen lässt sich die Belastung nicht überall unter die Grenzwerte senken», erklärt Hanspeter Gloor. Dazu seien die Behörden auch nicht verpflichtet, denn gemäss Umweltschutzgesetz und Lärmschutzverordnung müssten die Massnahmen immer auch verhältnismässig sein. «Wir werden die drängendsten Problemfälle jedoch bis 2019 gelöst haben und unsere Strategie konsequent weiterverfolgen. Die Bekämpfung des Strassenlärms ist eine Langzeitaufgabe.»
Lärm macht krank und verursacht hohe Kosten
Strassenlärm ist nicht einfach ein lästiges, aber harmloses Übel. Vielmehr beeinträchtigen ständige übermässige Belastungen die Gesundheit der betroffenen Anwohner. Sie lösen nervöse Reaktionen aus und fördern die Ausschüttung von Stresshormonen wie Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol. Zudem steigt der Blutdruck an, was zu Schlafstörungen, Depressionen und Herzerkrankungen bis hin zum Herzinfarkt führen kann. Die gefährliche Kaskade wird selbst dann in Gang gesetzt, wenn die Betroffenen den Schall gar nicht bewusst wahrnehmen oder ihn nicht als störend empfinden - wie etwa im Schlaf. Entgegen einer weit verbreiteten Irrmeinung kann sich unser Körper auch nicht an Lärm gewöhnen.
Zum Schutz der Bevölkerung hat der Bund für die wichtigsten Lärmarten Limiten festgelegt. Der Gesetzgeber unterscheidet dabei zwischen Belastungsgrenzwerten, die vor gesundheitsschädigenden Einwirkungen (Immissionen) schützen sollen, und Emissionsgrenzwerten. Letztere bestimmen, wie viel Lärm gewisse Schallquellen, wie zum Beispiel Motorfahrzeuge, maximal an die Umwelt abgeben dürfen. Die Belastungsgrenzwerte geben an, wie hoch der Schallpegel am Einwirkungsort - wie etwa in einer Wohnung - höchstens sein darf.
Mithilfe der Lärmdatenbank sonBASE hat das BAFU errechnet, dass in der Schweiz tagsüber jede fünfte und nachts jede sechste Person an ihrem Wohnort übermässigem Strassenverkehrslärm ausgesetzt ist. Die damit verbundenen externen Kosten schätzt das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) auf 1,5 Mrd. CHF pro Jahr. Davon entfallen rund 40 % auf gesundheitliche Beeinträchtigungen, und 60 % betreffen lärmbedingte Wertverluste von Liegenschaften.
Weiterführende Informationen
Letzte Änderung 18.05.2016