Die kleinen wasserlöslichen Moleküle des Trifluoracetats (TFA) sind stabil und mobil zugleich: Sie bauen sich kaum ab, legen weite Strecken zurück und gelangen über verschiedene Wege in die Umwelt. In einem Pilotprojekt untersucht das BAFU, wie sich die Chemikalie verbreitet und wo es wie viel davon gibt.
Text: Lucienne Rey
Wer in einem Archiv arbeitet, benötigt mitunter sowohl Muskelkraft als auch Fingerspitzengefühl. Stärke ist gefragt, wenn es die hohe Bockleiter zu verschieben gilt, um im Wasserarchiv des Physikalischen Instituts der Universität Bern die oberen Regale zu erreichen. Eine ruhige Hand wiederum braucht es, um kleine Mengen des flüssigen Archivguts aus den eingelagerten Apothekerflaschen in Proberöhrchen abzufüllen. Diese knifflige Aufgabe teilen sich Florian Storck von der Sektion Hydrologische Grundlagen Gewässerzustand und Henry Wöhrnschimmel von der Sektion Biozide und Pflanzenschutzmittel des BAFU: Sie wollen anhand der Wasserproben aus der Vergangenheit herausfinden, ob und wie sich in der Schweiz die Konzenetration von Trifluoracetat (TFA) im Niederschlag und in verschiedenen Gewässern während der letzten Jahrzehnte verändert hat.
Alarm am Neckar
Im Sommer 2016 entdeckten Mitarbeitende des deutschen Technologiezentrums Wasser TZW ungewöhnlich hohe Werte von TFA im Unterlauf des Neckars bei Heidelberg und Mannheim. Die Verursacherin war bald gefunden: eine Firma, die Fluorprodukte als Grundstoff für Arznei- und Pflanzenschutzmittel herstellt. In der Fachwelt galt die Chemikalie als nicht besonders problematisch (siehe Box). Hellhörig wurde man allerdings, als im Nachgang zur Analyse des Neckar-Wassers auch im Grundwasser TFA nachgewiesen wurde, und zwar an Orten, wo man es nicht erwartet hätte. Aufgrund dieser unerwartet weiten Verbreitung des Stoffs rückte dieser in den Fokus von Umwelt- und Verbraucherschutz, und Deutschland erliess einen Leitwert von 60 Mikrogramm, also Millionstel Gramm, pro Liter für TFA im Trinkwasser.
Zudem gab das deutsche Umweltbundesamt eine Studie zur aktuellen und künftigen Umweltbelastung durch TFA in Auftrag. Zu erwarten ist nämlich, dass die Konzentrationen der äusserst stabilen Substanz zunehmen werden. Denn diese ist unter anderem
ein Abbauprodukt von Kältemitteln der neuesten Generation, die seit den 2010er-Jahren zunehmend die stark klimaschädlichen Fluorkohlenwasserstoffe ersetzen. Gestützt auf ein Modell, das an der eidgenössischen Material- und Forschungsanstalt Empa entwickelt wurde, bestätigte die Studie aus Deutschland: Die Menge an TFA, die in die Umwelt gelangt, wird bis 2050 stark ansteigen.
Ein Modell für Schweizer Verhältnisse
Noch ist das von der Empa erarbeitete Modell aber mit Unsicherheiten behaftet. Um diese zu beseitigen und zugleich die Situation in der Schweiz auszuleuchten, nutzen Florian Storck und Henry Wöhrnschimmel Wasserproben aus dem sorgsam gehüteten Berner Archivschatz. Tatsächlich ist das hier gelagerte Wasser von grossem wissenschaftlichem Wert: «Ab den frühen 1970er-Jahren bis heute hat die Abteilung für Klima- und Umweltphysik systematisch Proben aus verschiedenen Flüssen und Seen, aus Eis- und Schneefeldern sowie von Grund- und Regenwasser gesammelt», erklärt der Hüter des Archivs, Markus Leuenberger, Professor für Umwelt- und Klimaphysik. Als Zeuge aus der Vergangenheit lässt dieses Wasser Rückschlüsse auf die früheren Umweltbedingungen zu – auf Klimaschwankungen etwa, aber auch auf Belastungen durch Schadstoffe. «Sollten wir feststellen, dass im archivierten Wasser die TFA-Konzentration mit der Zeit stark ansteigt, wäre das ein starkes Indiz für einen vom Menschen verursachten Einfluss», sagt Wöhrnschimmel.
Wo TFA herkommt
Zusätzlich zu den Daten aus dem archivierten Wasser sammelt das BAFU an neun Messstellen an grösseren Flüssen und von zwölf Niederschlagsstationen Wasserproben, die anschliessend auf TFA untersucht werden. Die Standorte sind repräsentativ für die Schweiz gewählt, sie decken sowohl Agglomerationen als auch landwirtschaftlich genutzte Gebiete und Bergregionen ab. «Das Pilotprojekt soll Aufschluss darüber geben, welche Standorte besonders aussagekräftig sind, um sie in allfälligen Folgestudien weiter zu beobachten», sagt Florian Storck. Letztlich geht es darum, den Ursprung des TFA herauszufinden. «Wir wollen wissen, ob es sich eher um lokale, regionale oder überregionale Quellen handelt», erklärt Storck. Dabei soll das Empa-Modell helfen. Denn es zeigt, wie sich Vorläuferstoffe in der Atmosphäre zu TFA umwandeln und dann mit dem Niederschlag in die Oberflächengewässer gelangen. Daraus wiederum lässt sich ableiten, über welche Wege sich der Schadstoff ausbreitet. Sind einmal dessen wichtigsten Quellen ermittelt, wird klar, ob lokale oder nationale Massnahmen allein zur Lösung des Problems ausreichen, oder ob der TFA-Eintrag nur in internationaler Zusammenarbeit gesenkt werden kann.
Das Pilotprojekt des BAFU startete 2020 damit, die aktuellen Wasserproben zu sammeln und analysieren zu lassen; ein Jahr später folgte die Betrachtung der archivierten Wasserproben. Das ganze Pilotprojekt soll Ende 2023 zum Abschluss kommen. Klar ist aber bereits: Das TFA gilt in seinen aktuellen Konzentrationen für den Menschen nicht als gefährlich. Indessen zeigen Studien, dass TFA für einige Algenarten ab Konzentrationen von 120 Mikrogramm pro Liter giftig ist und über längere Zeit auch Rädertierchen und Wasserflöhe schädigt.
Vorausschauend handeln und analysieren
Das BAFU handle im Sinne des Vorsorgeprinzips, sagt Henry Wöhrnschimmel. Für den Endbericht werden spezifische Zeitperioden modelliert, von denen sowohl die Wetterverhältnisse als auch die TFA-Konzentrationen im Regen bekannt sind. «Der Bericht wird eine Reihe von Fallbeispielen umfassen, die gesamthaft viel über die Verbreitung und Konzentrationen von TFA aussagen», erklärt der BAFU-Spezialist.
Erste Ergebnisse liegen vor: Für den Monat Juli 2021 zeigt eine Karte der Verbreitung ein dunkelblau eingefärbtes Gebiet, das von Norditalien bis zur Südgrenze der Schweiz reicht. Diese TFA-Höchstwerte dürften auf die Industrie in der Poebene zurückzuführen sein. Weiter nördlich zieht sich ein Band in etwas hellerem Blau von der Region Aarau in Richtung Bodensee und damit wieder über einen Raum reger Wirtschaftstätigkeit. Weitere Ergebnisse werden folgen. Immerhin fügen sich die vorläufigen Resultate aus der Schweiz in das bereits bekannte wissenschaftliche Gesamtbild ein: Die Werte der bisher analysierten Proben lagen im Bereich von 0,1 bis 5 Mikrogramm pro Liter. «Das ist ein ähnlicher Grössenbereich, wie er auch in Deutschland gemessen wurde», stellt Wöhrnschimmel fest. Die beobachteten Konzentrationen unterschreiten damit den humantoxikologisch oder ökotoxikologisch bedenklichen Gehalt deutlich.
Allerdings: In den vergangenen Jahrzehnten haben sich verschiedene Substanzen, die auf den ersten Blick unschädlich schienen oder gar als fortschrittlich galten, mit der Zeit als gesundheitsgefährdend erwiesen. Indem das BAFU in archivierten Wasserproben die Entwicklung der TFA-Konzentrationen nachverfolgt sowie aktuelle Veränderungen analysiert, zieht es Lehren aus der Vergangenheit. Denn: Punktuelle Beobachtungen zu einem isolierten Zeitpunkt werden dem vielschichtigen Zusammenspiel der Umwelteinflüsse kaum je gerecht.
TFA – Ein Stoff mit Beharrlichkeit
Bei TFA handelt es ich um das Anion – ein negativ geladenes Ion – der Trifluoressigsäure. Diese ist eine sehr starke Säure, die unter normalen Umweltbedingungen als TFA vorliegt und in Wasser gut löslich ist. TFA ist unter anderem ein Abbauprodukt einiger Pflanzenschutzmittel und Medikamente. Im Regenwasser stammt die Substanz grösstenteils aus den Kältemitteln, die in Klimaanlagen von Fahrzeugen und Gebäuden verwendet werden. Befindet sich TFA erst einmal im Wasserkreislauf, lässt es sich kaum wieder daraus entfernen.Die Fachwelt hat die Chemikalie seit den 1990er-Jahren im Blick. Sie wurde bereits 1994 in Tübinger Regenwasser nachgewiesen; 1998 fand eine Forschungsgruppe der Universität Bayreuth im Nebel Werte von TFA, die deutlich über jenen im Regen lagen. Für den Menschen birgt die Chemikalie nach derzeitigem Wissensstand bei den heute gemessenen Umweltkonzentrationen kein Risiko. Der in Deutschland erlassene Leitwert von 60 Mikrogramm pro Liter für TFA im Trinkwasser beruht auf der Annahme, dass selbst dann, wenn ein Mensch lebenslang täglich zwei Liter von solchermassen belastetem Wasser trinkt, seine Gesundheit keinen Schaden nimmt. Im Übrigen liegt dieser Leitwert etwa 40-mal höher als die Konzentrationen, die 2022 in der Schweiz stichprobenartig erhoben wurden.
Letzte Änderung 15.03.2023