Wahrnehmung der Umwelt: «Naturerlebnis aus zweiter Hand»

Entfremdet uns die digitale Transformation von der Natur? Diese Befürchtung treibt viele um. Doch klug konzipierte Applikationen könnten dazu beitragen, das Interesse für die Umwelt weitherum zu wecken.

Text: Lucienne Rey

Entfernen wir uns von der Natur?
Entfernen wir uns von der Natur?
© BAFU

Ein Hochmoor, durchsetzt mit vereinzelten Bäumen, dahinter die schneebedeckten Grate eines Bergmassivs, aus dessen Felsflanke eine Burg emporragt; oder ein von Palmen und Oleandern gesäumter Strassenzug, der sich in sanften Kurven durch eine südländisch anmutende Stadt windet: In die Komposition stimmiger Landschaften investieren die Entwickler von Computerspielen viel. Denn ob eines davon zum Erfolg wird, hängt massgeblich von der synthetischen Welt ab, in die die Spielerinnen und Spieler eintauchen. Etliche davon gestehen freimütig, sie würden viel Zeit damit verbringen, sich in der malerischen Umgebung umzuschauen. Diese digitale Flanerie (so nennt die Games-Branche den Prozess der Raumerkundung im Computerspiel) birgt stets auch die Gefahr der sogenannten ludonarrativen Dissonanz: Statt der programmierten Erzählung zu folgen, tun die Spielenden etwas ganz anderes – stehen beispielsweise herum und beobachten die virtuelle Natur.

Lieber drinnen als im Freien?

Die Suggestivkraft der Bilder, welche die Gamerinnen und Gamer vom Display aus in fremde Welten entführen, ist manchen Naturpädagogen und -soziologinnen ein Dorn im Auge. Aus ihrer Sicht tragen die spektakulären Szenen dazu bei, das Spiel an der Konsole attraktiver wirken zu lassen als den Aufenthalt im Freien: Die mystisch angehauchten Landschaften in der Cyberprovinz von Skyrim etwa stechen die Grünfläche mit ihrem getrimmten Rasen allemal aus.

Der «Jugendreport Natur», im Jahr 2016 auf der Grundlage einer Befragung von rund 1200 Kindern und Jugendlichen in Deutschland zum siebten Mal publiziert, attestiert der jungen Generation denn auch eine zunehmende Entfremdung von der Natur. Diese erscheine vielen Heranwachsenden schlicht als langweilig – nicht zuletzt, weil sich deren Alltag im Takt der digitalen Medien kontinuierlich beschleunigt, die Natur aber ihrem eigenen, vergleichsweise gemächlichen Rhythmus folgt.
Kommt hinzu, dass naturnahe Flächen, die zum Spiel einladen, insbesondere in Städten immer seltener werden – ein Trend, der das verdichtete Bauen zu einer höchst anspruchsvollen Aufgabe macht: «Die Siedlungsentwicklung nach innen muss qualitätsorientiert erfolgen», bestätigt Daniel Arn von der Abteilung Arten, Ökosysteme, Landschaften im BAFU. «Es geht darum, im Siedlungsraum naturnahe Räume zu sichern, wo sich Vögel beobachten lassen und das Wachstum der Pflanzen erlebt werden kann. Unversiegelte Flächen und bewachsene Fassaden tragen ebenfalls dazu bei, Siedlungen aufzuwerten.» Eine gute Siedlungsplanung wäre also allenfalls imstande, die Verführungskraft virtueller Spielplätze zu kontern.

Vielen Eltern ist es allerdings ganz recht, wenn sie den Nachwuchs an der Playstation in der Sicherheit der eigenen vier Wände wissen, statt sich zu sorgen, er könne durch den Verkehr oder unliebsame Begegnungen in Gefahr geraten. Zudem bestimmen sie, welches Wissen für die Sprösslinge als erstrebenswert gilt: Eine Umfrage in Deutschland, durchgeführt vom Institut für Demoskopie Allensbach im Auftrag der deutschen Wildtierstiftung, erkundigte sich bei knapp 1500 Personen nach den Gebieten, auf denen man sich auskennen sollte. Die Vertrautheit mit dem Computer rangierte mit 46 Prozent weit vor Kenntnissen der Natur mit 25 Prozent.

(R)auswege

Doch nicht alle Fachleute beurteilen die Folgen der Medialisierung auf unser Verhältnis zur Natur negativ. Vielmehr verweisen sie darauf, dass Spiele wie Pokémon Go auch eingefleischte Stubenhocker nach draussen zu locken vermögen. Zwar betrachten die Gamer ihre Umgebung durch das Handy; dieses reichert die mittels der Kamera und des Ortungssensors erkannten Standorte um virtuelle Eigenschaften oder Charaktere an, denn es handelt sich um sogenannte MAR-Apps – so lautet das Kürzel für Mobile Augmented Reality (mobile erweiterte Realität). Die Gamer jagen also im Freien nach Pokémon-Fantasiewesen, die sie fangen und gegeneinander antreten lassen.

Was mit Märchengestalten möglich ist, müsste auch für die reale Fauna und Flora zu verwirklichen sein. Augmented Reality könnte genutzt werden, um beispielsweise Tier- und Pflanzenarten ihren Lebensräumen zuzuordnen oder seltene Insekten zu identifizieren. Ein 2016 in der Wissenschaftszeitschrift «Nature» erschienener Leitartikel regt gar an, Pokémon Go zu nutzen, um neue Arten zu entdecken: Die Spielenden könnten Tiere und Pflanzen fotografieren, denen sie auf ihrer Pokémon-Jagd begegnen, und die Bilder anschliessend ins Internet laden, so der Autor. Gut möglich, dass in der Fotoausbeute der weltweit mehr als 800 Millionen ­Gamer auch ein paar bisher unbekannte Spezies figurieren würden.

Bindung durch Wissen

Ein Klassiker unter den MAR-Apps ist PeakFinder. Die in der Schweiz entwickelte Software kennt 300 000 Berge in der ganzen Welt. Das Handy wird einfach in Richtung des Gipfels gehalten, über den man mehr wissen möchte; alsbald erscheint auf dem Display das Panorama mit dem Namen der gesuchten Kuppe. Für verschiedene Schweizer Städte stehen auch Applikationen zur Verfügung, die ihre historische Entwicklung visualisieren: Die Kamera von Handy oder Tablet wird gegen ein Gebäude gerichtet, und auf dem Bildschirm werden Fotos oder Videos aus vergangenen Epochen sichtbar. Eher auf naturräumliche Eigenheiten fokussiert die App Greenway, die von Studierenden der Universität Lugano (TI) entwickelt wurde. Sie leitet Wanderfreudige auf Wegen rund um den Lago di Lugano und verknüpft das von der Kamera erkannte Landschaftsbild mit zusätzlichen Informationen über Sehenswürdigkeiten und lokale Pflanzen und Tiere. «Das Wissen der Menschen um die Einzigartigkeit und Besonderheit eines Ortes und ihre Identifikation mit ihm, der ‹Sense of Place›, kann durch angereicherte Information gestärkt werden», erklärt Matthias Buchecker, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) in Birmensdorf (ZH).

Mut zu Neuem

Dass uns das Handy mit anderen Menschen verbindet, hat unter Umständen auch Folgen für das Natur- und Landschaftserlebnis. «Viele scheuen sich, alleine den Wald aufzusuchen oder auch nur spazieren zu gehen», weiss Matthias Buchecker, der sich an der WSL mit sozialwissenschaftlichen Fragestellungen rund um Landschaft befasst. Das Handy verleiht ihnen Sicherheit, weil sie im Notfall jemanden erreichen können.

«Aus Befragungen wird ersichtlich, dass Erholung zu 80 Prozent auf Routine beruht», führt der WSL-Fachmann weiter aus. Will heissen: Wir suchen in unserer Freizeit immer wieder die gleichen Orte auf. «Informationen auf dem Handy können uns helfen, von den eigenen Trampelpfaden loszukommen, weil sie uns anregen, andere Gegenden kennenzulernen.» Mit dieser Zielsetzung hat die WSL denn auch die Naherholungs-App entwickelt, die mittels einer Suchmaske attraktive Naturräume vorschlägt.

Visionäre Tourismusfachleute denken gar darüber nach, die Handy-Ortungsdaten in Echtzeit einzusetzen, um Publikumsströme so zu lenken, dass den individuellen Vorlieben entsprochen und zugleich die Belastung für besonders intensiv frequentierte Hotspots gesenkt würde. Zumindest hierzulande wurde allerdings noch kein entsprechendes Projekt in die Praxis überführt – nicht zuletzt, weil viele Fragen rund um den Datenschutz ungeklärt sind.

Das Natürliche stärken

Die Wissenschaft hat sich erst vereinzelt mit den Folgen der Digitalisierung auf die Naturwahrnehmung auseinandergesetzt. Eine an der Universität Stanford (USA) durchgeführte Doktorarbeit liess eine Gruppe von Probanden in einer virtuellen Umgebung einen Mammutbaum fällen, dessen Holz angeblich für die Produktion von Papier bestimmt war. Eine zweite Gruppe erhielt einzig Informa­tionen über den Zusammenhang zwischen Papierverbrauch und Abholzung. Die anschliessende Beobachtungsstudie ermittelte bei beiden Gruppen eine sparsamere Verwendung von Papierservietten. Die Versuchspersonen, die sich als virtuelle Holzfäller betätigt hatten, gingen allerdings deutlich haushälterischer damit um.

Eine andere Untersuchung an der Universität von Georgia (USA) nutzte die Möglichkeiten der virtuellen Welt, um Probanden einerseits in Kühe und andererseits in Korallen hineinzuversetzen. Auch hier weisen die Ergebnisse darauf hin, dass Erfahrungen in der Cyberwelt– stärker als das blosse Betrachten von Videos – dazu dienen können, ein Zielpublikum für Fragen des Artenschutzes und für Umweltprobleme wie etwa die Versauerung der Meere zu sensibilisieren.

An der Universität Kassel (D) schliesslich entstand eine Doktorarbeit, die die Erholungswirkung von Videoaufnahmen eines Parks mit einem tatsächlichen Spaziergang in ebendieser Umgebung verglich. Das Ergebnis: Die Natursimulation führte zu «relativ ähnlichen Erholungsreaktionen wie die physisch-materielle Natur». Daraus den Schluss zu ziehen, für unsere Gesundheit sei der Aufenthalt in einer kunstvoll gestalteten Cyberlandschaft einem Waldspaziergang ebenbürtig, greift allerdings zu kurz: Allein schon, um dem Bewegungsmangel infolge unserer sesshaften Lebensweise und seinen gesundheitlichen Folgeschäden zu entkommen, ist der Bummel im Grünen der Kontemplation am Bildschirm unbedingt vorzuziehen.

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Letzte Änderung 04.09.2019

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