Biodiversität: Gleise vernetzen nicht nur Menschen, sondern auch Lebensräume

Entlang ihrer Streckennetze sind die Bahnunternehmen der Schweiz für grosse Landflächen verantwortlich. Auf diesen sollen auch die Biodiversität und die Vernetzung gefördert werden. Wie setzen das die Appenzeller Bahnen um? «die umwelt» war mit auf Beobachtungsgang am Gleis.

Text: Santina Russo

Remo Morath zeichnet auf
Remo Morath zeichnet auf, wie viele Insekten sich am Bord neben den Gleisen finden.
© Santina Russo

Remo Morath hat einen entdeckt: Etwa zwei Meter entfernt ist der Schmetterling von einer Blüte aufgeflattert und tanzt nun lustig in der Luft. «Ein Weissling», erkennt Morath. Zu dieser Gattung von Tagfaltern gehören in der Schweiz etwa der Kleine Kohlweissling und der Zitronenfalter. Morath hat zwar ein Fangnetz dabei, lässt aber diesen kleinen Flattermann ziehen. «Ich erkenne von hier, dass er zu einer der häufigen Arten gehört, mehr Informationen brauche ich nicht.» Der Umweltingenieur der Umweltberatungsfirma GeOs geht weiter der Gleisböschung entlang, beobachtet. Schon flattert ein zweiter Weissling auf. Nun bleibt Morath stehen und horcht: Im Gras zirpt es. «Zwei – und da noch einer, drei.» Am Zirpen der Grashüpfer erkennt er die Art, und wie viele Exemplare sich in den hochgewachsenen Gräsern und Kräutern verstecken. Er trägt die Anzahl Tagfalter und Heuschrecken in seine Liste ein, zusammen mit einer Einschätzung der Höhe der Vegetation und des Blütenangebots. Wir befinden uns nicht etwa auf einer weitläufigen Wiese, sondern an einer steilen Böschung neben einem Bahngleis. Genauer: am Streckenabschnitt der Appenzeller Bahnen zwischen Gossau (SG) und Herisau (AR).

Moraths heutige Exkursion ist Teil einer ganzen Reihe von Beobachtungs­gängen, sogenannten Wirkungs­kontrollen, auf vordefinierten Flächen entlang der Gleise der Appenzeller Bahnen und über mehrere Jahre hinweg. Die Frage, die beantwortet werden soll: Tummeln sich mit der Zeit mehr Insektenarten und mehr Exemplare auf diesen Flächen? Helfen also die neuen Massnahmen tatsächlich, die Biodiversität zu fördern?

Denn in den letzten Jahren haben die Appenzeller Bahnen zusammen mit den Ökologinnen und Ökologen von GeOs auf ihren Gleisböschungen zahlreiche Massnahmen für einen vielfältigeren Lebensraum umgesetzt: Etwa an geeigneten Stellen Haufen aus Steinen und Holz aufgeschichtet, gebietsfremde invasive Sträucher entfernt und stattdessen einheimische gepflanzt, an bestimmten Bahnhöfen blütenreiche Wiesen gesät und an geeigneten Stellen Amphibientümpel angelegt. Zudem haben sie in der Nähe eines grösseren Weihers zwischen Herisau und Waldstatt mehrere Amphibiendurchlässe eingerichtet. Denn um zu ihrem Laichgewässer zu gelangen, versuchen hier typischerweise viele Frösche, Kröten und Molche, die Gleise zu überqueren. Zu den Durchlässen gehören keilförmige Ableitbleche, die innen an den Schienen platziert sind und verhindern, dass Amphibien weiter den Gleisen entlang hopsen oder kriechen. Stattdessen plumpsen sie herunter – und finden so den Durchgang, der im abgesenkten Schotterbett unter den Gleisen hindurchführt.

Mit dem Messer schneiden statt häckseln

Eine weitere wichtige Fördermassnahme wirkt unscheinbar, bringt aber viel: der angepasste Unterhalt der Gleis­böschungen. Neu werden diese Böschungen nicht mehr konventionell gemulcht, sondern schonender gemäht. «Das Mulchen mit konventionellen Maschinen muss man sich wie einen Häcksler vorstellen», erklärt Morath. «Das zerschneidet alles – Pflanzen, aber eben auch Insekten, Amphibien oder kleine Säugetiere, die sich in der Vegetation versteckt haben.»Dennoch müssen zu hohe Gräser und Büsche geschnitten werden, aus Sicherheitsgründen für den Zugbetrieb. «Die Sicherheitsbestimmungen legen das Lichtraumprofil genau fest, also das Areal, das um die Gleise herum frei sein muss», erklärt Michael Bolt, der als Leiter Fahrbahn für den Betrieb der Appenzeller Bahnen verantwortlich ist. Gewisse Dinge kann das Bahnunternehmen aber anpassen. Erstens, die Vegetation nur so häufig stutzen, wie nötig, und nicht einfach standardmässig so oft, wie man das immer getan hat. «Je nach Fläche heisst das beispielsweise nur noch zweimal pro Jahr, im späten Frühling und im Herbst, statt mehrere Male», sagt Bolt.

Zweitens werden nun viele Böschungs­flächen schonender mit einem Mähbalken geschnitten, einer Art grossem Sägemesser, das über die Fläche fährt. «Bei dieser Methode bleiben die meisten Insekten und anderen Tiere unverletzt», erklärt Umweltingenieur Morath. Zudem führen die Appenzeller Bahnen neu einige Nächte später – wegen des Zugbetriebs kann nur während wenigen Nachtstunden gearbeitet werden – das geschnittene Pflanzenmaterial ab. Denn die Pflanzenreste sollen sich nicht zersetzen und ihre Nährstoffe in den Boden abgeben können. Im Gegenteil: «Wir wollen den Gleisen entlang nährstoffarme Böden, auf denen Magerwiesen wachsen», betont Morath. Denn diese bieten zahlreichen Pflanzen einen Lebensraum, die auf anderen, nährstoffreicheren Flächen verdrängt und darum immer seltener werden.

Aufgeschichtete Steinhaufen bieten Schutz
Solche absichtlich aufgeschichteten Steinhaufen bieten vielen kleinen Tierarten Unterschlupf.
© Santina Russo

Was Insekten wollen

Inzwischen hat Morath einen Zug abgewartet und dann die Schienen überquert. Damit er dabei nicht in Gefahr kommt, ist der Sicherheitsbeauftragte Krsto Ristic mit dabei. Er hat den Fahrplan im Griff und warnt Morath mit einem Signalhorn, wenn ein Zug naht. Auf dieser Kontroll­fläche ist nun kein Schmetterling zu sehen, dafür gibt es hörbar viele Grashüpfer. Morath hält den Kopf schräg, konzentriert sich. «Wohl etwa 20 Heugümper», sagt er und trägt es ein. «Insekten haben ganz unterschiedliche Ansprüche an ihren Lebensraum», weiss Morath. Beispiel Heuschrecken: Als erwachsene Tiere mögen sie trockene Standorte, wo sie genug Pflanzen oder Tierreste als Nahrung finden. Doch für ihre Eier benötigen sie ein feuchtes Mikroklima. Oder die Tagfalter: Sie brauchen brache Flächen, damit sich ihre Eier und Raupen entwickeln können, aber als Falter dann auch ein arten­spezifisches Blütenangebot. «So braucht es für einen guten Lebensraum ein ganzes Mosaik von Bedingungen.» Mit dem angepassten Böschungsunterhalt wollen die Appenzeller Bahnen zusammen mit GeOs ideale Bedingungen für eine vielfältige Biodiversität schaffen.

Hinweise dafür, dass das klappt, liefern die Tagfalter- und Heuschrecken­arten. Ihre Vielfalt und ihr Bestand lassen sich mit relativ wenig Aufwand registrieren, und es sind sogenannte Zeigerarten: «Wenn wir diese Arten breit fördern können, dann gibt es im gleichen Lebensraum ziemlich sicher auch Käfer, Schwebefliegen, Wildbienen oder Libellen, die von den Massnahmen profitieren», erklärt Morath.

Allerdings: Für das Bahnunternehmen bedeutet diese Förderung einen signifikanten Aufwand. Es brauchte etwa neue Mähmaschinen und das Know-how, wie man diese bedient. «Eine solche Umstellung läuft nicht ganz reibungslos», sagt Michael Bolt. «Wir mussten unseren Mitarbeitenden den Sinn und Zweck der neuen Vorgehensweisen genau erklären», erzählt er. «Manchmal braucht es ein wenig, bis sich ein Verständnis dafür entwickelt, warum wir diesen Aufwand betreiben. Das ist ein Prozess.»

Biotop neben den Gleisen
Ein Biotop neben den Gleisen: neuer Lebensraum für Amphibien.
© Santina Russo

Wanderung entlang der Gleise

Doch der Aufwand lohnt sich. Denn die Schweizer Bahnunternehmen sind entlang ihres Streckennetzes für grosse Landflächen verantwortlich. Den Appenzeller Bahnen gehören an ihren rund 100 Gleiskilometern auf einem Gebiet zwischen Gossau und Altstätten ganze 60 000 Quadrat­meter Böschungsfläche, also sechs Hektaren. Und: Das Schienennetz verbindet nicht nur Siedlungen, sondern es vernetzt auch Lebens­räume. Besonders in manchen Gegenden des Mittellands haben Gleisböschungen laut GeOs das Potenzial, die wenigen noch vorhandenen wertvollen Lebensräume zu ergänzen. Sie bieten Lebensräume für Insekten und Spinnen, für Reptilien und Säugetiere. Darin können sich zum Beispiel Blindschleichen oder Hermeline über weite Strecken fortbewegen. Das ist wichtig, um neue Lebensräume zu besiedeln, und für den genetischen Austausch.

Sogar die Rangierbahnhöfe der Bahnunternehmen seien wertvoll, sagt auch Fanny Kupferschmid, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim BAFU. Denn zwischen ihren Gleisen ist es sehr trocken. «Das sind ideale Bedingungen für spezialisierte Arten, die man auf den anderen, homogenen Flächen des Mittellands nicht mehr findet.»

Kupferschmid ist bei der BAFU-Sektion Landschaftsmanagement für die Bahnunternehmen zuständig. Wie die Appenzeller Bahnen sind auch die über 30 weiteren Bahnunternehmen der Schweiz vom Bund dazu aufgerufen, die Biodiversität zu fördern. Gemäss der Leistungsvereinbarungen mit dem Bundesamt für Verkehr (BAV) müssen sie unter anderem den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln reduzieren und mittelfristig mindestens 20 Prozent ihrer Grünflächen im Bahnbereich naturnah gestalten und so die Artenvielfalt fördern. Dafür erhalten sie vom BAV eine Entschädigungs­pauschale. Das BAFU hat die Aufgabe, die Anforderungen zu kommunizieren und zu überprüfen. Jedes Jahr reichen die Bahnunternehmen einen entsprechenden Bericht ein. «Wir bewerten jeweils die getroffenen Massnahmen, wie sie umgesetzt wurden und was man allenfalls besser machen könnte», sagt Kupferschmid.

Ihr ist bewusst, dass das Engagement der Bahnen für mehr Biodiversität Zeit braucht. «Selbst wenn sie stark motiviert sind, etwas für die Biodiversität zu tun, werden sie auf Schwierigkeiten stossen», räumt Kupferschmid ein. Weil Bahnunternehmen hohe Anforderungen punkto Sicherheit erfüllen müssen, seien Änderungen grundsätzlich herausfordernd. «Wichtig ist aber: Es gibt für Schwierigkeiten auch Lösungen.» So musste etwa die Maschine für das schonendere Mähen mit dem Mähbalken erst entwickelt werden wie auch die Methode, um sie am besten einzusetzen. Inzwischen ist sie bei den Appenzeller Bahnen zum Standard geworden. Kupferschmid weist auch auf den Verband öffentlicher Verkehr VöV hin, wo sich die Bahnunternehmen austauschen und gegenseitig unterstützen können.

In steilem Gelände lässt sich schonend mähen
Auch in steilem Gelände lässt sich schonend mähen, um die Biodiversität zu fördern.
© Santina Russo

Neues Leben im Tümpel

Für Michael Bolt von den Appenzeller Bahnen ist indessen klar: «Was die Biodiversität angeht, haben wir eine Verantwortung.» Er und sein Team beziehen die Biodiversität ein, wo immer es sich anbietet. Wenn etwa an einer Stelle etwas umgebaut werden muss, wird geprüft, ob sich dabei gleichzeitig etwas für die Biodiversität tun lässt. Erst kürzlich hatten Bolt und Kupferschmid ein Erfolgserlebnis: In einem neu angelegten Tümpel kurz vor Appenzell fanden sich schon anderthalb Jahre später Kaulquappen, wahrscheinlich von Erdkröten – neues Leben in einem neuen Lebensraum.

Dagegen wird es noch einige Zeit dauern, bis die Auswirkungen der umgestellten Böschungspflege ersichtlich sind. Remo Morath ist inzwischen bei einer nächsten Kontrollfläche bei Waldstatt angelangt, wo er weitere Tagfalterarten entdeckt, beispielsweise zwei hübsche Hauhechel-Bläulinge. Und hier hört er nun auch das Zirpen einer anderen Heuschreckenart als der zahlreichen Grashüpfer, nämlich das einer Strauch­schrecke. Noch zwei weitere Jahre wird das GeOs-Team jeweils im Sommer Tagfalter- und Heuschrecken­arten erfassen. Danach wird drei Jahre pausiert und dann nochmals drei Jahre gemessen. «Aus dem Vergleich lässt sich dann abschätzen, wie stark der angepasste Böschungsunterhalt die Biodiversität beflügelt hat.»

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Letzte Änderung 03.04.2024

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