01.06.22 - Die revidierte Jagdverordnung des Bundes legt nun genau fest, welche Herdenschutzmassnahmen als «zumutbar» gelten. Ihre Wirksamkeit bestätigt der Besuch auf einer Walliser Schafalp im Goms. Allerdings sind die notwendigen Voraussetzungen auf vielen Alpen noch nicht erfüllt.
Text: Nicolas Gattlen
Die Fahrt zum «Guferli» ist ein wilder Ritt: Vom Berghotel Chäserstatt oberhalb von Ernen (VS) führt eine steile, mit unzähligen Rinnen und Schlaglöchern durchsetzte Naturstrasse auf den Gipfel des Ernergalen. Hier, auf 2300 Metern Höhe über Meer, gelangt man über eine lang gezogene Kuppe schliesslich zur Alp.
Dreimal pro Woche fährt Alban Pfammatter hier mit dem Motorrad hoch, um nach seinen Schafen und Hunden zu sehen – oft mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. «Dieser Sommer war schlimm», erzählt der 47-jährige Nebenerwerbsbauer bei unserem Besuch auf der Alp im August 2021. «Es gab hier im Goms fast täglich Wolfsattacken auf Schafe, manche in unmittelbarer Nähe.» Alban Pfammatter zeigt auf den Grat im Osten, der die Grenze seiner Alp markiert. Im Tal dahinter sei Anfang August ein Wolf geschossen worden, zweifellos aber streife noch ein zweiter durchs Goms, womöglich gar ein dritter.
Was ist zumutbar?
Die Bewilligung für den Abschuss hatte der Kanton Wallis erteilt, nachdem auf der rechten und der linken Talseite des Goms innert weniger Wochen mehr als zehn Schafe «in einer geschützten Situation oder in einem nicht zumutbar schützbaren Gebiet» durch Wolfsattacken umkamen. Die neuen Abschussregeln waren Mitte Juli 2021 in Kraft getreten. Davor lag die Schwelle bei 15 Rissen. Die revidierte Jagdverordnung legt zudem präzise fest, welche Herdenschutzmassnahmen zumutbar sind. Aufgeführt wird etwa das Errichten von Zäunen mit gutem Bodenabschluss, einer Minimalhöhe von 90 Zentimetern und einer Elektrifizierung von mindestens 3000 Volt. Als Alternative zu den Zäunen wird der Einsatz von mindestens zwei geprüften Herdenschutzhunden verlangt. «Mit dem neuen Vollzugsartikel haben die Alpverantwortlichen und die Kantone nun klare Beurteilungskriterien zur Hand», sagt Isa Steenblock, verantwortlich für das Dossier Herdenschutz beim BAFU.
Kommt es zu Rissen in einem «zumutbar schützbaren Gebiet», haben die Herdenschutzbeauftragten der Kantone zu beurteilen, ob die geforderten Schutzmassnahmen umgesetzt wurden.
Vor-Ort-Beurteilung nach Rissen
Ende Juni 2021 musste Moritz Schwery – der Herdenschutzbeauftragte des Kantons Wallis – eine solche Einschätzung am Hungerberg im Obergoms vornehmen. In einer 800-köpfigen Schafherde wurden dort 23 Lämmer gerissen. Die Herde wird von zwei Hirten betreut und von vier Herdenschutzhunden geschützt – allerdings, so stellte der Begutachter vor Ort fest, umfasste die Weide mehr als 40 Hektaren. Laut der Vollzugshilfe «Herdenschutz» des BAFU sollte eine Tagesweide maximal 20 Hektaren gross sein, damit sie für die Hunde übersichtlich ist. Aufgrund des mangelhaften Herdenschutzes am Hungerberg entschied sich der Kanton gegen einen Abschuss des Wolfs. Schliesslich wurde er dann rund fünf Wochen später getötet – nach 14 Schafrissen auf zwei anderen Alpen.
Auf dem «Guferli» nutzen Alban Pfammatter und seine Kollegen mit ihren knapp 20 Hektaren nur etwa einen Drittel der verfügbaren Alpfläche. «Das Terrain ist so für die beiden Hunde besser überschaubar», erklärt der Schäfer. «Und wenn sich in der Herde einmal zwei Gruppen bilden, teilen sich die Hunde auf.» Eine permanente Behirtung sei auf dieser Alp gar nicht nötig, sagt er. Die 110-köpfige Schwarznasen-Herde, zusammengesetzt aus drei Ställen, bleibe meist kompakt beisammen.
Tägliche Kontrollen
«Einen Hirten könnten wir uns auch gar nicht leisten», ergänzt Alban Pfammatter. Jeden Tag aber sei einer der drei Schafbesitzer oder die Hirtin der benachbarten Rinderalp auf Kontrollgang, schaue sich die Schafe an, füttere die Hunde und schreite den 3 Kilometer langen Zaun ab, um zu prüfen, ob alles in Ordnung sei. Der Zaun ist gerade mal 50 Zentimeter hoch, er hält die Schafe drinnen, verhindert aber nicht das Eindringen eines Wolfs. «Dafür sorgen Sina und Calvi», sagt Pfammatter. Die gross gewachsenen Maremmano-Hunde beschützen die Herde und würden einen Angreifer «verbellen». Das System scheint zu funktionieren, hatten Alban Pfammatter und seine Kollegen doch noch nie einen Riss zu beklagen.
Anders im benachbarten Rappental, wo es seit 2011 regelmässig Wolfsattacken und teils hohe Verluste gab. Im Frühjahr 2019 erarbeitete die Alpgenossenschaft gemeinsam mit der kantonalen Herdenschutzberatung ein neues Schutzkonzept. Seither bewachen vier Herdenschutzhunde die rund 700 behirteten Schafe. Mit Erfolg – inzwischen kam es nur noch zu wenigen Rissen. Dass sich Her-den mit Schutzhunden oder Elektrozäunen effektiv schützen lassen, zeigt der «Jahresbericht Herdenschutz Schweiz 2020». Demnach ereigneten sich über 90 Prozent der Nutztierrisse ausserhalb von geschützten Situationen. Die wenigen Risse in geschützten Herden erfolgten meist bei Nebel oder Regen: «tempo da lupi» oder übersetzt Wolfswetter, wie es in Italien heisst. Wetterbedingt konnten jeweils nicht alle Schafe gefunden und in den Schutzbereich geführt werden.
«Schützbar» und «unschützbar»
Nicht alle Alpen verfügen allerdings über geeignete Bedingungen für den Herdenschutz. Dies zeigt ein Bericht zur Schafalpplanung im Wallis, den das BAFU und der Kanton vor einigen Jahren in Auftrag gaben. Demnach gelten 25 Prozent der 152 erfassten Walliser Schafalpen als «nicht schützbar», weil beispielsweise das Gelände zu felsig, zu steil oder mit zu vielen Erlenbüschen durchzogen ist. Bei immerhin 15 Prozent der Alpen waren bei der Erhebung die Voraussetzungen für einen zumutbaren Herdenschutz erfüllt. Und bei 60 Prozent lassen sich diese Voraussetzungen mit strukturellen Veränderungen erfüllen.
«Die Zumutbarkeit hängt nicht nur von der Topografie und der Geografie ab», erklärt der kantonale Herdenschutzbeauftragte Moritz Schwery. «Auch wirtschaftliche und soziale Aspekte spielen eine Rolle.» Die Anstellung eines Hirten oder einer Hirtin etwa lohne sich erst ab einer Herdengrösse von 300 Tieren. Gerade im Oberwallis mit seinen vielen Nebenerwerbsbauern und Kleinalpen werde diese Grösse eher selten erreicht; die Herden umfassten im Schnitt 150 bis 200 Schafe. Vielerorts sei zudem die Infrastruktur für Unterkunft, Trinkwasser- und Stromversorgung ungenügend.
Schleppende Umstellung
So wird im Oberwallis noch immer auf über 60 Prozent der Schafalpen der freie Weidegang praktiziert, obschon der Bund seit über 20 Jahren die Umtriebsweide und die ständige Behirtung über gestaffelte Sömmerungsbeiträge zu fördern versucht. Die Präsenz des Wolfs dürfte den Wandel nun aber vorantreiben. «Die Schäfer sind sich inzwischen bewusst, dass der Wolf nicht mehr verschwinden wird. Und sie wollen ihre Tiere schützen», sagt Moritz Schwery. «Zusammen mit den Alpbewirtschaftenden versuchen wir, Schutzkonzepte zu entwickeln, die nach und nach umgesetzt werden.» Auch das Zusammenlegen von Herden werde geprüft. Die Sache sei aber komplex, sagt der Fachmann, denn es drohten mehr Krankheitsausbrüche und die Aufgabe von einzelnen Alpen.
Manchmal helfen auch «kleine» Infrastruktur-verbesserungen. Auf der Alp «Guferli», die aufgrund ihrer Grösse und des schwierigen Zugangs einst – ebenso wie die Alp Rappental – als «unschützbar» galt, steht den Schäfern seit 2020 eine mobile Unterkunft zur Verfügung. Diese ist zu zwei Dritteln durch die öffentliche Hand finanziert worden. Alban Pfammatter übernachtet nun während der Saison jedes Wochenende auf der Alp.
Alban Pfammatter ist dankbar für die Unterstützung durch Bund und Kanton. Grundsätzlich trägt das BAFU 80 Prozent der Kosten, die durch Schutzmassnahmen – wie etwa neues Zaunmaterial, die elektrische Verstärkung der Weidezäune oder die Haltung und den Einsatz von Herdenschutzhunden – anfallen. Entschädigt werden auch die Ausgaben für Futter, Transporte, Tierarzt oder Versicherungen. Das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) fördert den Herdenschutz indirekt, vor allem über Sömmerungsbeiträge, die je nach Weidesystem unterschiedlich hoch ausfallen. Diese Rechnung aber gehe nicht auf, erklärt Alban Pfammatter. Ein erheblicher Teil des zusätzlichen Aufwands, den ihm der Wolf aufbürde, sei «nicht gedeckt» – etwa die täglichen zweistündigen Kontrollgänge am Zaun oder die ganzjährige Beschäftigung mit den beiden Hunden.
Konflikte mit Touristen
Ausserdem machten ihm Touristen und Touristinnen zu schaffen. Regelmässig müsse er Biker und Wandernde davon abhalten, die Weide zu durchqueren – trotz der angebrachten Schilder, die auf die Präsenz von Herdenschutzhunden aufmerksam machen.Konflikte mit Schutzhunden gebe es auch unten im Tal, erklärt der Schäfer. Pfammatters Hunde sind im Winterhalbjahr auf dorfnahen Weiden bei den Schafen. Ein Vorteil sei, dass die Nutztiere also auch dort vor Attacken durch Wölfe oder Füchse geschützt sind. «Aber manche Leute stören sich am Gebell oder fürchten sich vor den Hunden, die mit den Schafen zu den Weiden laufen», erklärt Alban Pfammatter. Mit der wachsenden Zahl an Herdenschutzhunden würden solche Konflikte zunehmen, ist der Schäfer überzeugt.
«Der Wolf ist eine Herausforderung für die ganze Gesellschaft», sagt die BAFU-Fachfrau Isa Steenblock. «Nicht nur die Nutztierhalterinnen und -halter sind gefordert, wir alle müssen uns auf Veränderungen in Wolfsgebieten einstellen und gewisse Einschränkungen akzeptieren.» Dazu gehöre etwa, dass Wanderwege zwischenzeitlich gesperrt oder neu geführt würden und dass auf Alpen in mittleren Lagen und im Talgrund künftig mehr Herdenschutzhunde anzutreffen seien.
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Letzte Änderung 01.06.2022