In der Schweiz ist für viele Arten fünf vor zwölf

Die Tier- und Pflanzenwelt der Schweiz ist unter Druck. Das zeigen die jüngsten Berichte über den Zustand der Biodiversität und die Roten Listen der gefährdeten Arten. Ihr Fazit: Wir müssen mehr tun, um die einheimischen Lebensräume und Arten zu fördern und zu schützen.

Text: Santina Russo

Nutzgeflügel Wildvogel
15x mehr Nutzgeflügel als Wildvögel gibt es in der Schweiz, gemessen an ihrer Biomasse. Die Wildvögel kommen auf 1100 Tonnen, das Nutzgeflügel auf 16 000 Tonnen.

Was meinen Sie, wie viele Wildtiere gibt es weltweit noch im Verhältnis zu uns Menschen und unseren Nutztieren? Noch weniger als Sie denken: Die wild lebenden Säugetiere machen nur noch vier Prozent der gesamten Säugetierbiomasse auf der Erde aus – von Haselmaus bis Blauwal. Die restlichen 96 Prozent gehören ganz dem Menschen und den Nutztieren. «Diese Zahl zeigt klar, wie stark wir Menschen die Ökosysteme beeinflussen und die Natur unter Druck setzen», sagt Jérôme Frei, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim BAFU.

Nun ist aber die Natur mit einer reichhaltigen Biodiversität die Grundlage unseres Lebens und Wirtschaftens. Unter Biodiversität versteht man den Artenreichtum der Pflanzen-, Pilz- und Tierarten sowie die genetische Vielfalt innerhalb der Populationen. Aber auch die Vielfalt an Lebensräumen, die die Arten beherbergen. Schliesslich sind an die Biodiversität auch die Ökosystemleistungen geknüpft, die uns die Natur gratis zur Verfügung stellt. Sie sorgt etwa für saubere Luft und sauberes Wasser, dient als Ernährungsgrundlage und reguliert das Klima. «Die Biodiversität ist komplex, noch versteht man längst nicht alles über die Wechselwirkungen zwischen Genen, Arten, Lebensräumen und wie diese auf menschliche Eingriffe reagieren», sagt Frei. «Klar ist aber: Wir müssen uns mehr für die Bio­diversität einsetzen.»

Die Situation ist kritisch

Kürzlich hat das BAFU zwei neue Untersuchungsberichte zum Zustand der Biodiversität und zu den Roten Listen der gefährdeten Arten in der Schweiz publiziert. Sie kommen zum Schluss: Die Biodiversität in der Schweiz ist unter Druck. Ohne Massnahmen kann sie die Ökosystem­leistungen, auf die wir angewiesen sind, langfristig nicht mehr erbringen. So ist fast die Hälfte der 167 untersuchten Lebensraumtypen – von Felsensteppe über Flaumeichenwald bis Hochmoor – bedroht. Zwei Prozent der Arten sind bereits ausgestorben, mehr als ein Drittel sind gefährdet – von verletzlich bis unmittelbar vom Aussterben bedroht. Weitere 12 Prozent werden als potenziell gefährdet eingestuft.

Biodiversität in der Schweiz

UZ-2306-D

Zustand und Entwicklung. 2023

Zersiedeltes und artenarmes Mittelland

«Besonders kritisch ist die Situation im Mittelland», sagt Biodiversitäts-Experte Frei. Hier dehnen sich Industrie- und Wohngebiete aus, Gleise und Strassen zerschneiden die Lebensräume. Zudem wird im Mittelland intensive Landwirtschaft betrieben, deren Dünger und Pflanzenschutzmittel die Artenvielfalt beeinträchtigen. Zwar gibt es heute mehr sogenannte Biodiversitätsförderflächen als noch 2017: Inzwischen machen sie fast einen Fünftel der Schweizer Agrarfläche aus. Diese fördern die Artenvielfalt nachweislich. Doch das reicht noch nicht. Diese Flächen müssten an Qualität gewinnen, also arten- und strukturreicher werden, und besser miteinander vernetzt sein, sagt Frei. Und: «Auch ausserhalb der Förderflächen ist eine nachhaltige Bewirtschaftung sehr wichtig, um die Belastungsgrenzen der Ökosysteme nicht zu überschreiten.»

Dazu kommt der Klimawandel: Höhere Temperaturen und längere Trockenzeiten verändern die Lebensräume. Damit kommen manche Arten gut zurecht, andere weniger. Viele Arten wandern in die Höhe, auf der Suche nach jenen Temperaturen, an die sie angepasst sind. «Besonders gut können wir die Auswirkungen der Hitze an den Tagfaltern erkennen», sagt Frei. Unter diesen gibt es Arten, die mit der Wärme gut zurechtkommen, sogenannte Wärmezeiger, und umgekehrt solche, die sich nur bei kalten Temperaturen gut entwickeln, die Kältezeiger. In den letzten Jahren hat sich gezeigt: Wärmezeiger entwickeln sich positiv, dagegen leiden die Populationen und die Artenvielfalt der Kältezeiger. «Wir beobachten, dass die Kältezeiger zunehmend in höhere Lagen migrieren.» Dort könnten sie den Platz wiederum anderen, auf diese Lebensräume spezialisierten Arten streitig machen.

In den Alpen gilt: nachhaltig nützen

Den Lebensräumen in den Alpen geht es generell etwas besser als jenen im Mittelland. Doch: «Die Artenvielfalt in den Bergen zu erhalten ist ein Balanceakt», sagt Frei. Ein gutes Beispiel dafür sind Trockenwiesen, ein Lebensraum, der besonders viele Pflanzen- und Tierarten beherbergt. Gibt man die Wiesen auf, indem man sie nicht mehr bewirtschaftet, überwachsen sie mit Büschen und Bäumen. Doch bewirtschaftet man die Wiesen zu intensiv, etwa indem man häufig mäht, schädigt dies die Biodiversität umso mehr. «Wir müssen das Land nachhaltig nützen mit einer Bewirtschaftung, die der Biodiversität förderlich ist», sagt darum Frei. Das werde in einigen Regionen bereits gemacht, müsste aber ausgeweitet werden.

Wie geht es geschützten Gebieten?

Die höchste Biodiversität beherbergen in der Schweiz die Biotope von nationaler Bedeutung. Dazu gehören etwa Hoch- und Flachmoore, Trockenwiesen, Auen und Amphibienlaichgebiete in der gesamten Schweiz. Das sind zwar flächenmässig kleine, aber besonders wertvolle und deshalb geschützte Lebensräume. Sie beherbergen rund ein Drittel der gefährdeten Arten. Nur: Die Untersuchungsresultate zeigen etwa, dass die Moore seit 1990 trockener und typische Flachmoorarten seltener geworden sind. Im Durchschnitt haben die Biotope seit den frühen 1990er-Jahren mindestens eine Amphibienart verloren. So nahm etwa die Anzahl von Kreuzkröten und Geburtshelferkröten ab – beides Arten, die bereits stark bedroht sind. Es gibt aber auch gute Nachrichten. So haben sich verschiedene andere Amphibien in den geschützten Gebieten positiv entwickelt. Allerdings sind die Lebensräume isoliert: «Viele Populationen sind in kleinen und isolierten Winkeln ihres Lebensraums eingepfercht», stellt Frei klar. In der Schweiz sind heute etwas mehr als dreizehn Prozent der Landfläche unter Schutz gestellt oder für die Biodiversität gesichert. Diese geschützten Flächen zu vergrössern oder mehr davon zu schaffen, werde immer schwieriger, sagt der BAFU-Experte. «Wir haben in der Schweiz einfach nicht unbeschränkt Platz.» Darum sei es umso wichtiger, die Qualität bestehender Schutzgebiete aufrechtzuerhalten, diese gut zu pflegen und sie – durch eine nach­haltige Nutzung der Landschaft – miteinander zu vernetzen.

Good News: Massnahmen wirken

Eine wichtige Erkenntnis der Untersuchungen war denn auch: Wir können etwas tun, um die Biodiversität zu fördern. Entsprechende Massnahmen wirken. So konnten sich als Folge von Renaturierungs- und Naturschutzmassnahmen, beispielsweise im Aargau, einige seltene Amphibienarten stabilisieren, etwa Bergmolche oder Erdkröten. Auch dem Wald und seinen Bewohnern, etwa den Waldvögeln und -insekten, geht es vergleichsweise besser. Das liegt daran, dass heute mehr Totholz in den Wäldern liegen bleibt und die Strukturvielfalt grösser ist als noch vor 30 Jahren. Dieses fördert die Biodiversität und verbessert die Nährstoffbilanz im Waldboden.«Es ist also durchaus möglich, die Situation zu verbessern», sagt Frei. «Darauf können wir aufbauen.» Um den negativen Trend umzukehren, brauche es aber mehr: einen umfassenden Ansatz. «Künftig müssen wir in allem, was wir tun – von der Sied­lungsentwicklung bis zur Nahrungsmittelproduktion – den Schutz der Biodiversität miteinbeziehen.»

Wie lässt sich die Biodiversität messen?

In den Roten Listen ist zusammengestellt, welche Arten und Lebensräume wie stark gefährdet sind. In der Schweiz beruhen sie auf Daten des Schweizerischen Informationszen­trums für Arten Infospecies, das sich seinerseits auf verschiedene Monitoringprogramme und auf Fundmeldungen von Expertinnen und Experten und Privatpersonen stützt. Die Monitoringprogramme untersuchen zudem, wie sich Lebensräume und Arten entwickeln, und versuchen, die komplexe Biodiversität möglichst umfassend zu beobachten. So erfassen Programme des BAFU die Entwicklung der Pflanzen, Brutvögel, Tagfalter, Gewässerinsekten oder Moose über die gesamte Schweiz. Andere Programme schauen sich die Artenvielfalt in bestimmten Lebensräumen an, etwa in den über 7000 geschützten Schweizer Biotopen oder der Agrarlandschaft.

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Letzte Änderung 13.09.2023

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