Zahlreiche Waffen- und Schiessplätze der Schweizer Armee beherbergen eine grosse Artenvielfalt. Auf diesen Arealen findet sich eine überdurchschnittlich hohe Anzahl an schützenswerten Lebensräumen und bedrohten Arten, die in anderen Gebieten aufgrund der intensiven Nutzung auf dem Rückzug sind.
Text: Stefan Hartmann
In einem ausgemusterten Militärstollen auf dem Schiessplatz Magletsch im St. Galler Rheintal macht ein Biologe 2013 eine erstaunliche Entdeckung: Auf der Suche nach möglichen Lebensräumen für Fledermäuse bemerkt er ein unscheinbares gelbbraunes Insekt. Es entpuppt sich als Bedornte Höhlenschrecke. Diese Heuschreckenart haben Fachleute in der Schweiz zuvor noch nie beobachtet – der Fund ist also eine Sensation. Das Eidgenössische Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) reagiert umgehend und sichert den Stollen zum Schutz des Insekts.
Regelmässiges Monitoring
Das VBS unternimmt viel, um bedrohte Arten zu erfassen und zu schützen. Seit 2012 lässt es 26 seiner grössten Areale auf die Bestände der Brutvögel und Gefässpflanzen untersuchen. Dazu wendet es die Methodik des Biodiversitätsmonitorings Schweiz (BDM) des BAFU an. Die Pflanzen sind alle fünf Jahre und die Brutvögel sogar in Zweijahresintervallen an der Reihe. Dabei erwiesen sich einige der kartierten Flächen als eigentliche Arten-Hotspots von nationaler Bedeutung. So brütet zum Beispiel jede fünfte Heidelerche der Schweiz auf den beiden Waffenplätzen Bure (JU) und Bière (VD), die – aus Sicherheitsgründen – teilweise für die Öffentlichkeit gesperrt sind.
«Mit 38 bis 40 Brutvogelarten pro Quadratkilometer sind die Armee-Areale zwar nicht artenreicher als die zivilen Vergleichsflächen des BDM Schweiz», stellt der Biologe David Külling fest. «Aber sie weisen viel mehr bedrohte Arten der Roten Liste auf», sagt der Leiter des Kompetenzzentrums (KOMZ) Natur- und Denkmalschutz beim VBS. Die drei bisherigen Erhebungen des Biodiversitätsmonitorings BDM für das VBS zu Brutvögeln zeigen, dass zwei Drittel der Arten auf den Roten Listen Armeegelände bevorzugen. Dies gilt auch für drei Viertel der Ziel- und Leitarten gemäss den Umweltzielen für die Landwirtschaft (UZL). So brütet beispielsweise die Dorngrasmücke, eine potenziell bedrohte Vogelart, auf mindestens fünf verschiedenen Waffenplätzen. Sie tritt dort also sechsmal häufiger auf als in der Vergleichsstichprobe des BDM Schweiz.
Trockenheit setzt Pflanzenarten zu
Anders als bei den Brutvögeln liegt für die Gefässpflanzen erst eine einzige Erhebung auf den 26 VBS-Arealen vor; die zweite ist noch im Gang. Dabei zeigt sich ein fast identisches Bild wie bei den Brutvögeln: So findet man auf Armeegeländen ebenfalls zwei Drittel der Arten der Roten Liste – und damit wiederum viel mehr als auf zivilen Vergleichsflächen. Allerdings deuten die neusten Zahlen von einigen Waffen-, Schiess- und Militärflugplätzen gegenüber der Ersterhebung einen Artenrückgang an. Auffällig ist dies etwa auf dem Waffenplatz Chamblon (VD): Hier sank die Zahl relativ dramatisch von 42 Arten anlässlich der Ersterhebung (2012/2016) auf noch deren 14 im Jahr 2018. Und auf dem Schiessplatz Petit-Hongrin (VD) fiel sie von 59 auf 49 Arten. Was hat sich hier in der Zwischenzeit verändert? «Der trockene Sommer 2018 hat eine grosse Rolle gespielt», sagt VBS-Biologe David Külling. «Chamblon glich im September 2018 einer nordafrikanischen Trockensavanne, sogar die Hecken welkten.» Doch schon im Februar 2019 gab es bereits wieder überdurchschnittlich viele Orchideenrosetten.
Die militärischen Areale sind für die Erhaltung und Förderung der Biodiversität in der Schweiz wichtig. In den letzten 30 bis 40 Jahren herrschte nämlich ein ständig wachsender Druck durch Siedlungen, eine immer intensivere Landwirtschaft, Verkehrsbauten und Freizeitaktivitäten. Seit vor etwa 200 Jahren die Einrichtung von Waffen- und Schiessplätzen begann, zu denen später auch die Militärflugpisten hinzukamen, konnte man auf diesen Flächen einen Artenreichtum erhalten, wie er andernorts im Land oft nicht mehr vorhanden ist.
Beim VBS ist das Verständnis für den Artenreichtum auf seinen rund 200 Ge-länden in den letzten 30 Jahren deutlich gewachsen. Dabei wirkte die 1987 vom Stimmvolk angenommene Rothenthurm-Initiative wie ein Weckruf. Sie wollte die gleichnamige Moorlandschaft gegen Ausbaupläne des dortigen Schiessplatzes schützen und führte im VBS zu einem Umdenken.
Mit dem Programm Natur, Landschaft und Armee (NLA) nimmt das VBS heute seine besondere Verantwortung gegenüber dem Naturerbe auf seinen Arealen wahr. Denn sie enthalten etwa doppelt so viele Flächen mit schützenswerten Lebensräumen wie die restlichen Gebiete. Ohne ein klares Konzept ist die Artenvielfalt der Armeegelände jedoch bedroht. Auch hier wächst der Nutzungsdruck permanent – nicht zuletzt auch von ziviler Seite. Das im Jahr 2000 lancierte NLA-Programm definiert deshalb klare Spielregeln für Armee-Areale.
Interessen unter einen Hut bringen
«Im Wesentlichen geht es beim NLA-Programm darum, die verschiedenen Nutzungsinteressen gemeinsam auf die Schutzbedürfnisse von Flora und Fauna abzustimmen», erklärt David Külling. Zu den Nutzern der Übungsgelände gehören neben den auszubildenden Truppen einerseits auch landwirtschaftliche Pächter. Für die extensive Bewirtschaftung solcher Flächen werden sie mehrheitlich mit Bundesgeldern aus dem Landwirtschaftsbudget abgegolten. Anderseits sind es aber auch Bürgerinnen und Bürger mit ihren Freizeitbedürfnissen – sei es als Biker, Joggerinnen oder Hobbyornithologen. Mögliche Interessenkonflikte zwischen Natur- und Landschaftsschutz, Militär und Dritten ermitteln Fachleute im Auftrag des VBS mit einem definierten Vorgehen, das auch die Lösungssuche umfasst. Dies kann bedeuten, dass ein Nebeneinander von militärischer Nutzung und Naturschutz möglich ist. Zudem kommt es vor, dass die vorgenommene Interessenabwägung entweder zugunsten der Landesverteidigung oder des Naturschutzes ausfällt. Seit dem Jahr 2000 hat das VBS die NLA-Konzepte für einen Grossteil der Armeegelände mit schützenswerten Lebensräumen definiert.
Artenförderung braucht Unterhalt
Ein besserer Artenschutz erfordert auch entsprechende Massnahmen. So liess sich die erfolgreiche Verdoppelung der Anzahl Reviere für Heidelerchen auf dem Waffenplatz Bure erzielen, indem man zwischen den unbefestigten Panzer-pisten nicht gedüngte Brachflächen schuf. Hier haben die landwirtschaftlichen Pächter klare Auflagen des VBS zu befolgen.
Auf dem Übungsplatz Gubel bei Menzingen (ZG) hat sich die Anzahl der Brutvogelarten nach einer Umwandlung der Fichtenmonokultur in einen Pionierwald verdoppelt. Zum Schutz der auf Armee-Arealen überdurchschnittlich häufigen artenreichen Trocken- und Feuchtwiesen gehört – neben einer angepassten Landwirtschaft – auch die Bekämpfung von ungewolltem Pflanzenbewuchs. Ein Beispiel dafür ist die seit den frühen 1980er-Jahren starke Ausbreitung des einheimischen Adlerfarns im Calanda-Zielhang beim Waffenplatz Chur.
Es braucht Schutzkonzepte
«Die Waffen-, Schiess- und Flugplätze bilden heute einen zentralen Eckstein in der Strategie des Bundes zum Schutz der Artenvielfalt», sagt Laurence von Fellenberg von der Sektion Landschaftsmanagement beim Bundesamt für Umwelt. VBS und BAFU arbeiten seit rund 30 Jahren eng zusammen und haben das Programm NLA gemeinsam erarbeitet. Die Weiterentwicklung der Armee hat nun aber zur Folge, dass viele Plätze nicht mehr benötigt werden und für eine zivile Nachnutzung zur Verfügung stehen. Mit der Stilllegung dieser Areale sei eine neue Situation entstanden, erklärt die BAFU-Expertin. «Bei der Rückgabe muss sichergestellt sein, dass grosse Armeegelände mit wertvollen Biotopen nicht plötzlich ohne Schutzkonzept dastehen.»
Der Handlungsbedarf ist gross. Der Aktionsplan Biodiversität des Bundesrates aus dem Jahr 2017 nimmt die Bundesstellen VBS und BAFU in die Pflicht: Im Rahmen eines Pilotprojekts sollen sie demnach einen Umgang für Flächen und Bauten festlegen, welche die Armee nicht mehr benötigt. Dazu zählen zum Beispiel die Schiessplätze Sensegraben (FR) oder Glaubenberg (LU/OW, siehe Box). Dabei geht es um eine Neuordnung der Zuständigkeiten. Die zentralen Fragen für Laurence von Fellenberg sind: «Wie wird der neue Unterhalt geregelt, damit der grosse Wert dieser Flächen erhalten bleibt? Wer hat ein Auge auf die Art und Intensität der Nutzung, sodass die Gebiete nicht zu stark beansprucht werden?» Für die BAFU-Fachfrau jedenfalls ist klar: «Die Erhaltung der Biodiversität dieser ökologisch äusserst wichtigen Flächen ist eine vordringliche Aufgabe.»
Zusätzlich zu den stillgelegten Schiessplätzen gibt das Eidgenössische Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) auch etwa 200 Geländeverbauungen (Panzerhindernisse) und Festungsbauten mit ökologischem Wert auf. Pro Natura führt derzeit Verhandlungen mit dem VBS über den Kauf von insgesamt zwei Dutzend dieser ausgedienten Verteidigungsbauten. Für die Naturschutzorganisation stellen sie wertvolle Lebensräume für Insekten, Kleinsäuger und Amphibien dar. Von besonderem Interesse sind die bis zu 20 Meter breiten Panzersperren gerade in landwirtschaftlich intensiv genutzten Gebieten des Mittellandes. «Optimal ist es, wenn sie als Korridore ein ganzes Tal durchqueren», sagt Andrea Haslinger von Pro Natura. «Wir werten diese Korridore mit zusätzlichen Massnahmen wie Steinhaufen, Hecken oder Blumenwiesen auf.»
Panzersperren als Vernetzungsflächen
Zusätzlich zu den stillgelegten Schiessplätzen gibt das Eidgenössische Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) auch etwa 200 Geländeverbauungen (Panzerhindernisse) und Festungsbauten mit ökologischem Wert auf. Pro Natura führt derzeit Verhandlungen mit dem VBS über den Kauf von insgesamt zwei Dutzend dieser ausgedienten Verteidigungsbauten. Für die Naturschutzorganisation stellen sie wertvolle Lebensräume für Insekten, Kleinsäuger und Amphibien dar. Von besonderem Interesse sind die bis zu 20 Meter breiten Panzersperren gerade in landwirtschaftlich intensiv genutzten Gebieten des Mittellandes. «Optimal ist es, wenn sie als Korridore ein ganzes Tal durchqueren», sagt Andrea Haslinger von Pro Natura. «Wir werten diese Korridore mit zusätzlichen Massnahmen wie Steinhaufen, Hecken oder Blumenwiesen auf.»
Ende Feuer auf dem Glaubenberg
Mit Ausnahme des Gebiets Wasserfallen wird der etwa 20 Quadratkilometer grosse Schiessplatz Glaubenberg (LU/OW) 2020 aufgegeben. Er liegt in der gleichnamigen Moorlandschaft von nationaler Bedeutung. Nach 1998 hat man dort die alpwirtschaftliche Beweidung schrittweise reduziert, wie es die von BAFU und VBS erarbeiteten Leitlinien «Militärische Nutzung und Moorschutz» seit 1994 vorsehen. Damit liess sich die Qualität der Moore auf dem Glaubenberg innert 10 Jahren wesentlich verbessern.
Dies belegen zwei Infrarot-Befliegungen und Pflanzenkartierungen der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL), die sie im neuen Buch «Moore der Schweiz» ausgewertet hat. Mit der Stilllegung eines Grossteils des Schiessplatzes ergeben sich nun neue Verantwortlichkeiten. Das VBS wird zwar weiterhin Eigentümerin bleiben, aber für den Schutz und Unterhalt muss es in Zusammenarbeit mit dem BAFU neue Partnerschaften und Lösungen finden.
Weiterführende Informationen
Letzte Änderung 04.09.2019