Die Lehrpläne für das Tessin, die Westschweiz und die Deutschschweiz beinhalten alle das Konzept der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE). BNE ist aber kein neues Fach auf dem Stundenplan, sondern ein fächerübergreifendes Bildungskonzept, das auch die ganze Schule betrifft.
Text: Patricia Michaud
Der Film «Tomorrow» hat die Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Lugano 1 inspiriert: Sie haben die Ärmel hochgekrempelt, nach der Hacke gegriffen und einen städtischen Gemüsegarten geschaffen. Angepflanzt wurden vor allem verschiedene Kürbissorten, aromatische Kräuter und essbare Blumen. Letztlich bildeten die fünf Beete einen Übungsraum für das Handeln (Verantwortung übernehmen und Handlungsspielräume nutzen), für die Teilhabe (gesellschaftliche Prozesse mitgestalten) und die Zusammenarbeit (nachhaltigkeitsrelevante Fragestellungen gemeinsam bearbeiten). Alles Kompetenzen im Sinne der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE).
Was genau aber ist BNE? «Es ist gewissermassen der Beitrag, den die Bildung zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) leisten kann», sagt Beat Bringold, Leiter der Sektion Umweltbildung beim BAFU. Zur Erinnerung: Punkt 4.7 der SDG sieht vor, dass bis 2030 alle Lernenden die notwendigen Kenntnisse und Qualifikationen zur Förderung nachhaltiger Entwicklung erwerben. Dies unter anderem durch Bildung für nachhaltige Entwicklung und nachhaltige Lebensweisen, Menschenrechte, Geschlechtergleichstellung, eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit oder auch der Weltbürgerschaft.
Für die 25 Schweizer NGOs, die sich zur Bildungskoalition zusammengeschlossen haben, ist Punkt 4.7 extrem wichtig: Ohne allgemeine Investitionen in BNE auf allen Bildungsstufen kann die Schweiz die Ziele für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030 nicht erreichen – oder zumindest nicht zeitgerecht. Für die Entwicklung eines zukunftsverantwortlichen Denkens, eines eigenständigen sozialen, ökologischen, politischen und wirtschaftlichen Urteilsvermögens sowie der Fähigkeit, am Geschehen teilnehmen zu können, ist Bildung tatsächlich von besonderer Bedeutung. Die Verankerung von BNE in den drei Lehrplänen der Schweiz – im Lehrplan 21 der Deutschschweiz, im Plan d’études romand der Westschweiz und im Piano di studio des Tessins – begrüsst Beat Bringold als «wichtigen Schritt nach vorne».
Kunstvolles Recycling
Aber Achtung: Die Integration von BNE in die Lehrpläne darf nicht mit der Einführung eines neuen obligatorischen Schulfachs verwechselt werden. «BNE ist kein Fach, sondern ein pädagogisches Konzept», erklärt Andrea Bader von der Stiftung éducation21, dem nationalen Kompetenz- und Dienstleistungszentrum für BNE in der Schweiz. Im Auftrag der Kantone, des Bundes (namentlich des BAFU) und der Zivilgesellschaft unterstützt éducation21 die Umsetzung und Verankerung von BNE auf der Ebene der obligatorischen Schule sowie der Sekundarstufe II. Konkret werden Lehrpersonen aus allen Fachgebieten dazu ermutigt, Themen wie Wasser, die Rechte der Kinder, Geld, Kleidung oder auch das Thema Wald so zu bearbeiten, dass die Lernenden das Wissen und die Kompetenzen zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung erlangen können. «Für BNE gibt es immer und überall Potenzial, auf allen Stufen vom Kindergarten über das Gymnasium bis hin zur Berufsbildung», führt Andrea Bader aus. «Genau darum kann BNE nur fächerübergreifend funktionieren.»
In der Primarschule Frenke in Liestal (BL) wird das Thema nachhaltige Ernährung mit dem Gartenprojekt «Popcorn und seine zwei Schwestern» erarbeitet. Begleitet von zwei Lehrerinnen lernen die Schülerinnen und Schüler in den Schulstunden unter freiem Himmel zum Beispiel die landwirtschaftliche Produktion in Südamerika, die Verflechtungen zwischen den Akteuren der Handelskette und die Bedeutung gesunder Ernährung kennen. Im Genfer Collège André-Chavanne können Lernende in einem Kreativatelier ein vergängliches Werk ihrer heutigen Wahrnehmung der Natur und ihrer Vorstellung der Natur in hundert Jahren kreieren. Dafür steht auch Material zur Verfügung: die PET-Abfälle, die in der Schule in einer Woche entstehen.
Vernetzter Teller
Auch wenn BNE von nun an Bestandteil der drei Schweizer Lehrpläne ist, «wird es Zeit brauchen, bis sich das Konzept etabliert», gibt Andrea Bader zu bedenken. Die Organisationen im BNE-Bereich – allen voran éducation21 – unterstützen die Lehrpersonen mit vielfältigen Praxisbeispielen, pädagogischen Beratungen und Lernmedien bei diesem Prozess.
So zum Beispiel mit dem Lernspiel «Der vernetzte Teller», bei dem Schülerinnen und Schüler der Zyklen 1–3 wechselseitige Abhängigkeiten erkennen und mögliche Verhaltensänderungen für eine nachhaltigere Welt entwerfen können. Im Rollenspiel erhält jedes Kind eine «Identität»: ein Lebensmittel (Schokolade, Zucchini, Apfel usw.) oder jemanden oder etwas, der oder das damit im Zusammenhang steht (Boden, Luft, Landwirt, Supermarkt usw.). Diese Verbindungen werden mit einem Faden veranschaulicht. Die Kinder erkennen nach und nach, dass zum Beispiel der Salat mit dem Wasser, dem Kunststoff und dem Erdöl verbunden ist und dass Letzteres wiederum mit dem LKW-Fahrer, der Luft und dem Boden zusammenhängt.
Die Schule als Labor
Einige Schulen gehen allerdings über die Initiative einzelner Lehrpersonen oder von Lehrergruppen hinaus. «Solche Einrichtungen pflegen eine gesamtheitliche Vision von BNE, die sich auf die Schule als Ganzes bezieht – sei es auf der Ebene des Unterrichts, der Organisation oder der Infrastruktur», sagt Andrea Bader. So wird die Schule selbst zu einem Reallabor für Nachhaltigkeit: partizipative Entscheidungsfindungsprozesse, nachhaltige Schulgebäude, Pflegen von Beziehungen mit dem Umfeld.
Alle drei Jahre erklärt beispielsweise das Collège Rambert in Clarens (VD) kurz vor den Sommerferien seine Unabhängigkeit und funktioniert drei Tage lang als eigenständige Stadt, die von den Schülerinnen und Schülern selbst regiert wird. Restaurants, Kunsthandwerk, Gartenarbeit und sogar eine eigene Währung – alles wird während des Schuljahres genauestens vorbereitet. Natürlich ist «Rambertville» auch für die Öffentlichkeit zugänglich. Das fördert die Eigenverantwortung (die Schülerinnen und Schüler kümmern sich selbst um das Funktionieren der «Stadt»), stärkt soziale Beziehungen (mit anderen Lernenden, Lehrpersonen, lokalen Akteuren, der Bevölkerung usw.) und fördert die Interdisziplinarität (verschiedene Fähigkeiten wie Kochkenntnisse oder wirtschaftliches Denken werden entwickelt). Nicht zu vergessen: die gesellschaftliche und berufliche Verankerung.
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Letzte Änderung 04.03.2020