10.07.2023 – So ein warmes Jahr hat die Schweiz noch nie erlebt: 2022 war gespickt mit Rekorden. Und das hatte und hat immer noch weitreichende Folgen für Mensch und Natur. Eine Einordnung.
2022 bricht Temperaturrekorde
2022 geht als das wärmste und sonnenreichste Jahr seit Messbeginn 1864 in die Geschichte ein. Während die Durchschnittstemperatur der Jahre 1991 bis 2020 bei 5,8 Grad lag, kletterte sie 2022 auf 7,4 Grad. Das ist vorläufiger Höhepunkt eines Wärmeschubs seit 2010: In dieser Zeitspanne liegen die sieben wärmsten Jahre seit Messbeginn. Insgesamt ist die jährliche Durchschnittstemperatur um 2 Grad angestiegen.
Schon der Winter 2021/2022 war auf der Alpensüdseite der zweitmildeste und auch der sonnigste seit Messbeginn. Ihn löste ein äusserst milder Frühling ab: Der Mai 2022 gilt als zweitwärmster seit Messbeginn. Der Sommer landete auf einem historischen zweiten Platz. Im Süden und Norden der Schweiz wurden Werte von über 36 Grad erreicht. Getoppt wurde er nur vom Jahrhundertsommer 2003.
Als heissester Tag des Schweizer Sommers gilt der 4. August in Genf mit 38,3 Grad, die längste Hitzeperiode erlebte Lugano mit 14 Tagen, an denen täglich 30 Grad oder mehr erreicht wurden. Mit 63 Hitzetagen brach Stabio TI sogar den Superrekord von 2003. Etwa in Genf und Basel wurden von April bis September die meisten Sonnenstunden aller Zeiten gemessen. Die hohen Temperaturen liessen am 25. Juli auch die Nullgradgrenze auf die Rekordhöhe von 5184 Meter steigen.
Im September wurde es dann unterdurchschnittlich kühl. Der Oktober setzte wiederum einen Wärmerekord und der Herbst 2022 wurde der drittwärmste seit Messbeginn.
Die Ozonwerte sind im Rekordjahr 2022 unter den Werten früherer Jahre geblieben. Das ist eine positive Nachricht, denn die hohe Anzahl von Sonnenstunden hat die Ozonbildung begünstigt. So wurden in den 1990er-Jahren noch Stundenmittelwerte von über 250 Mikrogramm pro Kubikmeter gemessen. 2022 blieb die Werte darunter – mit einem maximalen Stundenmittel auf der Alpennordseite von 177 und auf der Alpensüdseite von 213 Mikrogramm pro Kubikmeter.
Das Reizgas Ozon bildet sich an sehr sonnigen Tagen in einer chemischen Reaktion aus sogenannten Vorläufergasen: Stickstoffdioxid und flüchtigen Kohlenwasserstoffen. Die Ozon-Konzentration kann sich in einer Sonnenperiode gerade bei Windstille stetig erhöhen und für Mensch und Umwelt sehr schädlich sein. Die Schweizer und internationale Luftreinhaltepolitik setzt dabei an, die von Menschen verursachten hohen Werte der Vorläufergase zu reduzieren.
Schnee- und Regenmangel liess die Pegel fallen
Im Jahr 2022 gab es wenig Niederschläge, insbesondere im März, Mai und Juli blieben sie aus. Insgesamt wurde es wegen der Regenfälle im Spätsommer jedoch nicht so trocken, wie die ersten Monate befürchten liessen. Nur in einzelnen Regionen war 2022 das niederschlagsärmste Jahr in den jahrzehntelanger Messreihen. Im Herbst gab es im Norden über-, im Süden unterdurchschnittlich viele Niederschläge.
Die Situation bis zum Spätsommer brachte ab Mitte Juni bis Mitte August vielerorts extremes Niedrigwasser – auch in grossen Flüssen wie Aare, Reuss, Limmat und Rhein. Der Bodensee hatte im Untersee zwischen dem 15. Juli und dem 20. August einen rekordniedrigen Wasserstand von 394,7 Meter über Meer. Historisch tief waren in den ersten acht Monaten 2022 auch die Pegel des Lago di Lugano und des Lago Maggiore. Ganze Gewässerabschnitte trockneten aus, und manche Quellen versiegten.
Gletscherschmelze verstärkt sich
Die Schweizer Gletscher haben 2022 so viel Eis verloren wie nie zuvor: 3 Kubikkilometer oder 6 Prozent des Eises sind geschmolzen. Das entspricht ungefähr dem Volumen des Zugersees. Somit setzt das Jahr neue Massstäbe, denn bislang galt als extrem, wenn 2 Prozent des Eises verloren gegangen waren. Mittlerweile sind kleine Gletscher fast verschwunden: Für den Pizolgletscher (SG), den Vadret dal Corvatsch (GR) und den Schwarzbachfirn (UR) wurden die Massenbilanzmessungen eingestellt.
Drei Faktoren haben die Gletscherschmelze 2022 stark beeinflusst: Erstens war der Winter 2021/2022 sehr schneearm. Auf allen Höhenstufen schmolz die dünne Schneedecke rund einen Monat früher als normal. Zweitens begünstigten grosse Mengen an Saharastaub, die den Schnee verschmutzten, die Schmelze zwischen März und Mai. Drittens folgten zwischen Mai und August rekordhohe Temperaturen. Dabei setzte sich ein Prozess fort, der den Gletscherrückgang noch beschleunigt, indem jetzt zum Beispiel den Gletschern herausragen, über die zusätzlich Wärme ins Eis geleitet wird.
Hitzebedingte Todesfälle stiegen an
Die Anzahl hitzebedingter Todesfälle von Mai bis September 2022 wurde auf 474 Menschen geschätzt. Zur Einordnung: Generell gelten hierbei als die häufigsten, direkten Todesursachen Herzkreislaufstörungen, Erkrankungen der Atemwege und Nieren, die sich bei hohen Temperaturen verschlimmern können.
Die sogenannten hitzebedingten Todesfälle hatten somit einen Anteil an der Gesamtsterblichkeit von 1,7 Prozent. 2022 gab es mehr hitzebedingte Todesfälle als in den rekordheissen Jahren 2017 und 2019 mit 399 und 338 Hitzetoten. Sehr viel höher waren die Zahlen jedoch 2003, als mit 1402 Todesfällen knapp dreimal mehr Menschen in Folge der Hitze starben als 2022. Ein Grund dafür könnte sein, dass es 2022 auf der Alpennordseite weniger Tropennächte gab als 2003.
Wassersysteme gerieten aus dem Lot
Hohe Temperaturen stressten die Wasser-Ökosysteme
Wassertemperaturen von 25 Grad und mehr waren im 2022 in Schweizer Seen, Bächen und Flüssen keine Seltenheit. So warm war für mehrere Tage sogar der Rhein bei Basel. Bei solchen Temperaturen reduziert sich der Sauerstoffgehalt und die Stoffkonzentrationen erhöhen sich. Das führte an einigen Seen zu verstärkter Algenblüten und etwa am Untersee des Bodensees zu ungenügenden Sauerstoffverhältnisse.
Für Fische und teilweise auch Krebse war diese Situation problematisch. Wassertemperaturen über 25 Grad können etwa für Fische lebensbedrohlich werden. Im Sommer 2022 waren insbesondere Bachforellen, Groppen, Äschen und Barben betroffen. Zum Beispiel starben in der Thur im Kanton Zürich über alle Arten hinweg rund 1,5 Tonnen Fische. Während der Hitzemonate organisierten Fischereiaufsichten Notabfischungen. Generell blieb 2022 aber das grosse Fischsterben aus, das im Frühsommer im schlimmsten Fall erwartet worden war.
Es herrschte grosse Wasserknappheit
Die Trockenheit liess im Sommer das Wasser knapp werden. Vereinzelt versiegten sogar Quellen. Grundwasserspiegel und Pegel von Fliessgewässern sanken auf historisch tiefe Stände. In neun Kantonen kam es zu Versorgungsengpässen in der Wasserversorgung, die aber über die Netzwerke in der Wasserversorgung ausgeglichen werden konnten. Manche Alpen etwa im Kanton Schwyz erhielten im Juli eine Notwasserversorgung. Tankwagen kamen in vereinzelten Gemeinden in den Kantonen Tessin und Neuenburg zum Einsatz. 19 Kantone, insbesondere in der Zentralschweiz, im Jurabogen sowie auf der Alpensüdseite, riefen zum Wassersparen auf. Auch öffentliche Schwimmbäder wurden geschlossen.
Für die landwirtschaftliche Bewässerung durften in 14 Kantonen über mehrere Monate nur noch eingeschränkt Oberflächengewässer genutzt werden.
Niedrigwasser beeinträchtigte die Wasserwirtschaft
Die niedrigen Pegelstände hatten grosse Auswirkungen auf die Wasserkraft und die Schifffahrt. Viele Wasserkraftwerke mussten zumindest kurzzeitig den Betrieb unterbrechen. Die Wasserkraftanlagen produzierten insgesamt 15,2 Prozent weniger Elektrizität als im Vorjahr. Betroffen waren 13 Kantone. Das sind fünf Kantone mehr als im Sommer 2018.
Zudem war die Schifffahrt auf manchen Seen eingeschränkt: etwa im Kanton Waadt auf dem Lac de Joux, in Neuenburg auf dem Lac des Brenets und in der Ostschweiz auf dem Bodensee. Selbst der Rhein galt in manchen Bereichen zeitweise nicht mehr als befahrbar. Das war etwa der Fall in den Kantonen Basel und St. Gallen bei Rheineck und Thal.
Der niedrige Wasserpegel hatte Auswirkungen auf die Lademengen der Schiffe und somit auch auf die Mineralöl-Versorgung. Im Sommer 2022 wurde der Transport von Mineralölprodukten auf dem Wasserweg in die Schweiz so gut wie unmöglich. Als Konsequenz gab das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) zwischen Ende Juli und Ende September rund 20 Prozent des Mineralöls in den Schweizer Pflichtlagern frei.
Der Wald steht unter Hitzestress
Waldbrände wüteten insbesondere auf der Alpensüdseite
Die Trockenheit machte die Schweizer Wälder anfällig für Feuer. Insgesamt wurden 131 Waldbrände gemeldet, geschätzt wird die Anzahl auf rund 150. Das ist weit mehr als in früheren Jahren: 2000 bis 2018 gab es in der Schweiz durchschnittlich 109 Waldbrände pro Jahr mit jeweils verbrannten Flächen von 168 Hektar. 2022 haben offiziell 325,28 Hektar Wald und Grasland unter Feuer gestanden, das entspricht der Fläche von 325 Fussballfeldern. Am stärksten betroffen war der Kanton Tessin mit 64 Waldbränden auf 258,57 Hektar Wald. Graubünden meldete 30 und das Wallis 15 Waldbrände.
Im Tessin wüteten am meisten und auch die grössten Brände. Am Monte Gambarogno nahe der italienischen Grenze brach bereits im Februar ein Brand aus, der sich über 14 Tage auf über 150 Hektar Wald ausweitete. Mitte März wurde im Centovalli in der Nähe von Locarno gegen die Flammen gekämpft. Das Aquädukt des Centovalli war wegen der Trockenheit leer. So mussten bis zu acht Löschhelikopter und weitere Feuerwehrlastwagen Wasser vom Lago Maggiore zur Brandstelle transportieren.
Schon im Sommer wurden die Blätter braun
Braune Blätter wurden in Schweizer Wäldern 2022 bereits Anfang August beobachtet. Betroffen waren im Norden etwa Regionen wie die Ajoie im Jura und das Laufental im Kanton Basel-Landschaft. Der Effekt zeigte sich im Süden noch stärker – insbesondere im Wallis und Tessiner Mendrisiotto, wo bereits im August grossflächig ganze Wälder braun waren.
Trockenheit lässt die Blätter der Bäume frühzeitig braun werden. Dabei hat die Forschung herausgefunden, dass ein einziger heisser und trockener Sommer nicht direkt zu einer sogenannten Verbraunung führt – er trägt aber dazu bei, dass das Phänomen zeitverzögert auftritt, wenn weitere Trockenperioden folgen. So war der Effekt im Jahrhundertsommer 2003 noch gering, doch seit dem Hitzesommer 2018 war es immer wieder sehr trocken und heiss.
Für Buchen an trockenen Standorten etwa ist belegt, dass die Verbraunung als ein Zeichen der Schwäche zu werten ist. Die Bäume erholen sich am besten, wenn es in den kommenden Jahren viel Regen gibt. Wenn nicht, kann die Anzahl toter Äste von Jahr zu Jahr steigen und ein Absterben wird umso wahrscheinlicher.
Wegen der Hitze 2022 hat sich der Buchdrucker als die wichtigste Schweizer Borkenkäferart stark verbreitet. Deshalb mussten im Vergleich zum vorangehenden Jahr 3 Prozent mehr Bäume als sogenanntes Käferholz zwangsgenutzt werden. Im Kanton Waadt stieg diese Zwangsnutzung sogar um gut das Doppelte.
Zudem ist die Anzahl der gemeldeten Käfernester im Landesmittel um 13 Prozent gestiegen. Wegen der hohen Temperaturen konnten Buchdrucker sogar eine zusätzliche Generation produzieren. Gesunde Fichten können sich mithilfe des für die Käfer giftigen Harzflusses gegen deren Angriffe wehren. Doch Fachleute gehen davon aus, dass dieser Mechanismus bei Trockenstress beeinträchtigt ist.
In der Landwirtschaft gab es Gewinner und Verlierer
Für die Landwirtschaft hatte das Hitzejahr unterschiedliche Auswirkungen. Gelitten hat die Alpwirtschaft etwa im Jurabogen oder in Teilen der Voralpen wie im Berner Oberland oder im Kanton Freiburg. Manche Alpwirtschaften mussten Tiere früher von der Alp abziehen oder Futter vom Tal auf die Alpen bringen.
Einbussen gab es bei Kartoffeln: die Ernte fiel um rund 10 Prozent kleiner aus als im Fünfjahresschnitt. Die Apfelernte blieb 6,5 Prozent unter dem Zehnjahresschnitt.
Das Jahr verlief positiver für die Produktion von Gemüse, vor allem aber von Obst und Beeren. Am meisten profitierte der Weinbaum mit Blick auf Qualität und Menge. Die Produktion stieg um 63 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, wo die niedrigste Ernte seit 1957 eingefahren worden war.
Weinreben sind ein guter Indikator für den Klimawandel, da sie sehr sensibel sind auf Klimaschwankungen. 2022 konnte die Weinernte bereits am 20. Juli starten. Das ist ein Rekord seit Messbeginn vor fast einem Jahrhundert. Im Vergleich zum durchschnittlichen Reifedatum waren die Trauben über drei Wochen früher reif.
Seit 1985 steigen die Temperaturen insbesondere im Frühjahr und Sommer, was den Erntestart kontinuierlich nach vorne verschoben hat. Diesen Effekt beobachten Forschende des Forschungszentrums von Agroscope in Pully.
Der Sommer 2022 in den Medien
Die Berichterstattung in Schweizer Medien über Hitze und Trockenheit nimmt kontinuierlich zu und steht immer stärker im Kontext des Klimawandels. 2022 sind hierzu mit 8517 Beiträgen mehr als je zuvor erschienen, von denen über ein Viertel eine Verbindung zum Klimawandel herstellte. In Bezug auf den Hitzesommer 2018 wurden 5843 Beiträge gezählt, wovon 16 Prozent den Klimawandel berücksichtigten.
Berichte im Rahmen von Hitze und Trockenheit beschäftigten sich 2022 hauptsächlich mit folgenden Themenblöcken: Gewässer, Temperaturextreme, Auswirkungen auf den Alltag, Waldbrände sowie Wirtschaft und Klimawandel. Gerade die Wirtschaft gewinnt dabei im Zeitverlauf an Bedeutung, indem zum Beispiel ein Fokus auf Energieproduktion oder Landwirtschaft gelegt wird. Das zeigt sich auch bei den Akteursgruppen, die in den Beiträgen erwähnt werden: Unternehmen ziehen 2022 erstmals gleich mit der Wissenschaft und tauchen noch häufiger auf als Schweizer Behörden und internationale Institutionen.
Weiterführende Informationen
Letzte Änderung 10.07.2023