«Von Naturlandschaften profitieren wir auch wirtschaftlich»

Die Schweizer Pärke spielen eine entscheidende Rolle beim Schutz der Umwelt, denn sie bewahren die biologische Vielfalt und das kulturelle Erbe von Landschaften. Elodie Gerber (34), die aus Früchten aus dem Naturpark Chasseral Schnaps herstellt, und der ehemalige Parkdirektor François Margot (63) im Gespräch über die Balance zwischen Natur und Tourismus.

Gespräch: Stéphanie de Rougin

Elodie Gerber und Francois Margot
Elodie Gerber und François Margot sprechen über die Herausforderungen für diese Naturräume und über das sensible Gleichgewicht zwischen der Biodiversität und dem Zugang für die Öffentlichkeit. Mit dabei war auch Luna, François Margots Enkelin.
© Marion Nitsch | Lunax

Elodie Gerber

Elodie Gerber
© Marion Nitsch | Lunax

ist Umweltingenieurin und begleitet seit fast zehn Jahren Projekte zum Natur- und Kulturerbe im Naturpark Chasseral, der sich zwischen La Chaux-de-Fonds, Neuenburg und Biel erstreckt. Gleichzeitig leitet sie die Distillerie de l’Echelette in Orvin (BE), in der sie lokale Früchte zu Bränden verarbeitet und das Handwerk weitergibt.

François Margot

Francois Margot
© Marion Nitsch | Lunax

ist Agronom und seit Beginn seiner Laufbahn in der lokalen oder ruralen Entwicklung tätig. Bis zu seiner Pensionierung am 1. August 2022 war er Direktor des Regionalen Naturparks Gruyère Pays-d’Enhaut, zu dessen Gründungsmitgliedern er gehört.

Warum sollten die Leute Schweizer Pärke besuchen – was erwartet sie?

Elodie Gerber: Unsere Besucherinnen und Besucher kommen hauptsächlich in den Naturpark Chasseral, um den Jura mit seinen vielfältigen Gesichtern zu erkunden: die Natur und die Biodiversität, aber auch das kulturelle Erbe, etwa die regionalen Produkte oder das Zentrum der berühmten Uhrenindustrie. Wir möchten den Naturpark mit all seinen Aspekten vor allem Leuten, die hier in der Gegend leben, näherbringen. Das ist eine ziemliche Herausforderung, weil viele glauben, ihre Region gut zu kennen. Deshalb arbeiten wir gemeinsam mit lokalen Vereinen und Unternehmen daran, unbekannte oder wenig bekannte Dinge zur Geltung zu bringen, beispielsweise, wie kulinarische Spezialitäten gemacht werden, oder auch altes Handwerkswissen. Also Dinge, die für die Region von Bedeutung und gleichzeitig gute Beispiele für eine nachhaltige und sanfte Einbindung sind.

François Margot: Die Gegend des Regionalen Naturparks Gruyère Pays-d’Enhaut wird vor allem als Freizeitgebiet geschätzt und wegen der Ruhe, der ländlichen Kultur und der regionalen Produkte. Als Parkmitarbeitende ist es unsere Aufgabe, einen Mehrwert zu bieten, indem wir Wissen über dieses kulturelle und landschaftliche Erbe weitergeben. Es ist wirklich spannend, den Menschen aus der Gegend eine neue Sicht zu vermitteln, nämlich dass ihre Heimatregion nicht etwas Unveränderliches, sondern starken Veränderungen unterworfen ist. Und wir versuchen, sie für nachhaltige Verhaltensweisen zu gewinnen.

Pärke sind da, um Landschaften, Ökosysteme und Ressourcen zu schützen, gleichzeitig laden sie ein breites Publikum dazu ein, diese Landschaften zu erkunden. Wo verläuft die Grenze zwischen Erhaltung der Natur und touristischer Attraktivität? 

EG: Das ist tatsächlich ein fragiles Gleichgewicht. Grundsätzlich sind die Pärke aber so gross, dass sich die Gäste nur in begrenzten Gebieten aufhalten. Wir versuchen sie so zu lenken, dass nicht alle gleichzeitig an denselben Orten sind, und weniger bekannte Gebiete aufzuwerten. Dabei müssen wir immer überlegen, wie wir auf die Sehenswürdigkeiten des Parks hinweisen. Lange haben wir zum Beispiel den Standort des Gelb-Frauenschuhs, einer seltenen Orchideenart, geheim gehalten, um zu verhindern, dass alle dorthin strömen. Zusätzlich müssen wir auch daran denken, wie die Besuchenden sich im Park bewegen, und Shuttlebusse und Infrastrukturen für Velofahrerinnen und Fussgänger bereitstellen.

FM: Wir setzen vor allem auf touristische Angebote, die die drei Kantone und die vier Regionen, über die sich der Park erstreckt, miteinander verbinden. Für die Gestaltung der Grand Tour des Vanils zum Beispiel, eine Mehrtagestour über selten begangene Wege, haben wir die Meinung der Wildhüterinnen und Wildhüter eingeholt. Wir haben heute auch eine Charta für gutes Verhalten in den Bergen. 33 Parteien haben sie unterzeichnet, hauptsächlich Tourenbegleiterinnen und -begleiter und Tourismusbüros. Sie verpflichten sich unter anderem dafür, Aktivitäten auf Gegenden zu beschränken, in denen sie keine Wildtiere stören, auch ausserhalb der Schutzgebiete. Diese «sicheren» Gegenden sind auf einer Karte ersichtlich, die wir eigens erstellt haben. Die meisten anderen Schweizer Pärke haben ein ähnliches System.

Einzigartige Naturregionen

Die Schweizer Pärke: Das sind schöne Landschaften, eine reiche Biodiversität und hochwertige Kulturgüter. Die Pärke entstanden aus der Motivation der Bevölkerung, ihre Region zu schützen. Diesen Prozess formalisiert das BAFU, indem es das Parklabel verleiht. Der Naturpark Chasseral beispielsweise erstreckt sich in einem Dreieck zwischen La Chaux-de-Fonds, Neuenburg und Biel auf einer Fläche von 473 Qua­dratkilometern. Der Regionale Naturpark Gruyère Pays-d’Enhaut in den Kantonen Waadt und Freiburg dehnt sich auf 632 Quadratkilometern von der Riviera bei Montreux bis nach Bulle und von Les Mosses bis nach Charmey aus.

Wie hoch ist der ökologische Wert der Pärke – lässt sich dieser überhaupt beziffern?

EG: Zum Teil ja, so haben wir die Bestandteile der ökologischen Infrastruktur des Parks inventarisiert und basieren inzwischen alle unsere Biodiversitätsprojekte auf dieses Instrument. Mittlerweile haben auch die Kantone das Inventar übernommen und wir hoffen, dass sich bald Gemeinden und Naturschutzorganisationen wie Pro Natura anschliessen. Eine solche Vernetzung und eine gemeinsame Arbeitsgrundlage sind wichtig, um sinnvolle Massnahmen zu entwickeln.

FM: Ja, diese Erfassung ist ein wertvolles Instrument. Es ist wichtig, die Bedeutung der ökologischen Infrastruktur bekannt zu machen, nicht nur der breiten Öffentlichkeit, sondern auch den Gemeinden und anderen Landnutzern, besonders den Bäuerinnen und Bauern. Unser Park hat das Glück, Teil des Projekts «ValPar.CH» zu sein, das die ökologische Infrastruktur in Pärken untersucht und fördert (siehe Box). Als Park-Team sind wir sehr zufrieden mit seinem qualitativen Ansatz. Beim Versuch, den Wert der ökologischen Infrastruktur zu messen, ist es wichtig, die Mechanismen und Verflechtungen zwischen den einzelnen Komponenten herauszuarbeiten.

Ein Pilotprojekt des BAFU will zudem den wirtschaftlichen Wert der ökologischen Infrastruktur ermitteln. Elodie Gerber, Sie haben in diesem Rahmen einen Innovationsworkshop angestossen. Warum?

EG: Bei dem Workshop ging es darum, Hecken aus Wildbeerensträuchern zu verwerten – und ihnen damit auch einen Wert zuzuweisen. Aus den Früchten entstehen frische Säfte und Schnapsbrände. Die ersten Workshops liefen sehr gut und ich bin dabei, weitere zu organisieren. Zunächst lernen die Teilnehmenden die Sträucher erstmalig oder neu kennen, danach erfahren sie, wie sie die Beeren verarbeiten können. Das Ziel ist nicht ein massenhafter Verkauf der Produkte, sondern eine Sensibilisierung. Wir regen die Teilnehmenden auch dazu an, wilde Sorten im eigenen Garten anzupflanzen. Sobald man die Pflanzen kennt und weiss, wie nützlich sie sind, für die Biodiversität und für einen selbst, steigt die Motivation, ihren Lebensraum zu schützen.

FM: Mir gefällt diese Idee, dennoch halte ich es für wichtig, ein Naturgut nicht systematisch vom Standpunkt seiner Nutzung aus zu betrachten. Zunächst muss eine Verbindung mit dem Lebendigen entstehen, wir müssen die wechselseitigen Abhängigkeiten verstehen lernen. Davon werden wir letztlich auch wirtschaftlich profitieren.

Die Werte der ökologischen Infrastruktur verstehen – ökologisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich

Um die Biodiversität in der Schweiz zu erhalten und zu fördern, hat der Bundesrat 2017 den «Aktionsplan Strategie Biodiversität Schweiz» verabschiedet und damit eine Reihe von Massnahmen zum Aufbau einer ökologischen Infrastruktur ergriffen. Als ökologische Infrastruktur bezeichnet man ein Netzwerk aus Flächen, die für die Biodiversität wichtig sind. Ein solches Netzwerk bietet Lebensraum für zahlreiche Tiere und Pflanzen, gleichzeitig erbringt es für den Menschen lebenswichtige Leistungen, die manchmal verkannt oder unterschätzt werden. Zum Beispiel die Regulierung der Wasser- und Luftqualität und des Klimas. Einige dieser Leistungen sind zudem unerlässlich für wirtschaftliche Tätigkeiten wie die Nahrungsmittel- und die Energieproduktion, oder für das Gesundheitswesen.Aus diesen Gründen leitet das BAFU seit 2020 ein Pilotprojekt, das die Werte der ökologischen Infrastruktur in der Schweiz mit einem besonderen Augenmerk auf die Pärke von nationaler Bedeutung untersuchen und fördern soll. Das Projekt gliedert sich in drei Massnahmen: erstens ein von einem interdisziplinären Team geleitetes Forschungsprojekt namens «ValPar.CH»; zweitens Innovationsworkshops, um neue Güter, Dienstleistungen und Vermarktungsmodelle in den Pärken zu testen; und drittens ein Kommunikations- und Sensibilisierungsprojekt, um die Ergebnisse bekannt zu machen.

«Durch menschliche Aktivitäten wird die ökologische Infrastruktur immer mehr zerstückelt, so werden ihre Funktionen geschwächt oder gehen ganz verloren», sagt Simone Remund, Mitarbeiterin in der Sektion Landschaftspolitik des BAFU. «So können beispielsweise Hecken oder ein Bach für eine Landeigentümerin oder einen Bauern hinderlich sein. In den Innovationsworkshops erfahren sie, dass diese Infrastruktur auch einen wirtschaftlichen Wert hat.» Für Johann Dupuis, den Leiter des Projekts «ValPar.CH», ist es durchaus möglich, der Bevölkerung eine neue Sicht auf die Biodiversität zu eröffnen. «Umweltschutz wird von Menschen oder Unternehmen häufig als etwas Aufgezwungenes empfunden. Sobald die Leute aber Instrumente erhalten, die ihnen zeigen, dass Moore, Wälder und Trockenwiesen zu ihrer persönlichen Gesundheit beitragen und auch einen wirtschaftlichen Wert besitzen, kann sie das dazu anregen, diese Landschaften und die Biodiversität zu schützen.» Die Forschungsergebnisse von «ValPar.CH» werden Ende Jahr erwartet.

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Letzte Änderung 13.09.2023

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