Gefahrenbewusstsein: «Wer Sandsäcke kauft, darf nicht als ‹Angsthase› gelten»

Der Sozialwissenschaftler Matthias Buchecker erklärt im Interview, wie wir Naturgefahren in unserem Alltag wahrnehmen, warum wir bestimmte Risiken unterschätzen und weshalb die eigenverantwortliche Vorsorge in der Schweiz noch besser werden darf.

Interview: Nicolas Gattlen

Matthias Buchecker
Matthias Buchecker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Sein Forschungsschwerpunkt sind sozialwissenschaftliche Fragestellungen zu den Themen Landschaftsentwicklung, Gewässergestaltung und Naturgefahren. Zusammen mit Elisabeth Maidl und Benjamin Wiederkehr führte Matthias Buchecker die nationale Bevölkerungsumfrage «Leben mit Naturgefahren» durch.
© Heike Grasser | Ex-Press | BAFU

Wer in der Schweiz lebt, ist verschiedenen Naturgefahren ausgesetzt. Eine von Ihnen geleitete Umfrage zeigt nun, dass sich die subjektiven Einschätzungen kaum je mit dem tatsächlichen Risiko decken. Fehlt es an Wissen?

Matthias Buchecker: In den letzten Jahren ist die Forschung davon abgekommen, von einem Wissens- oder Bewusstseinsdefizit auszugehen. Der Begriff suggeriert, dass die Leute die Risiken nicht kennen oder diese nicht erkennen können. Selbstverständlich gibt es Unterschiede bezüglich des Kenntnisstands, wichtiger aber sind die unterschiedlichen Wertmassstäbe. Was wir Forschende als Risiko sehen, betrachten die Betroffenen als Teilaspekt einer Option. Ferien in einem Chalet in der roten Gefahrenzone etwa mögen risikoreich sein, sie bieten aber zugleich auch ein Wildniserlebnis. Es geht also stets um ein Abwägen zwischen Chance und Risiko.

Risiken sind für Laien schwer abzuschätzen. Wie kann da eine sachliche Abwägung gelingen?

Dies ist tatsächlich schwierig, auch weil ein gemeinsames Begriffsverständnis fehlt. Für uns Wissenschaftler bedeutet Risiko die Wahrscheinlichkeit quantifizierbarer Schäden. Die breite Bevölkerung verbindet Risiko mit Verantwortung, und entsprechend schätzt sie Risiken anders ein. Sie beurteilt sie primär nach den Kriterien «Kon­trollierbarkeit», «Vertrautheit» und «langfristige Konsequenzen». So gilt etwa die Nuklearenergie als viel risikoreicher als das Rauchen, obschon ein sehr seltenes nukleares Ereignis weniger Todesopfer oder Schäden zur Folge hat als das weltweite Rauchen in jedem Jahr.

Demnach dürfte auch das Lawinenrisiko eher unterschätzt werden, hat doch die Schweiz eine lange Tradition im Umgang mit dieser Gefahr – im Unterschied etwa zu schweren Erdbeben, die nur selten auftreten und uns nicht vertraut sind.

Lawinen sind eine Gefahr, die wir weitgehend im Griff zu haben glauben. Sie werden erst dann als risikoreich wahrgenommen, wenn sie unsere Existenzgrundlage beeinträchtigen. Muss zum Beispiel ein Tal immer wieder wegen Lawinen gesperrt werden, könnten dereinst die Touristen und Touristinnen ausbleiben. Bei Erdbeben sind langfristige Konsequenzen schwieriger auszumachen. Man rechnet eher mit einmaligen Schäden, die sich beheben lassen. Ausserdem treten grössere Beben bei uns derart selten auf, dass ihr Risiko nur schwer zu begreifen ist.

Wenn ich lese, dass die Eintretenswahrscheinlichkeit eines grösseren Erdbebens in meiner Region im nächsten Jahr bei 1 Prozent liegt, raubt mir das nicht den Schlaf.

Wenn Sie das aber auf Ihre Lebensjahre hochrechnen, ergibt sich ein anderes Bild. Dann steigt die Wahrscheinlichkeit auf 40 bis 60 Prozent, dass Sie ein solches Beben erleben. Das dürfte Ihnen zu denken geben!

Und doch bleibt dieses Risiko abstrakt, weil ich noch nie Erfahrungen mit mittleren oder grösseren Beben gemacht habe, und auch niemand unter meinen Verwandten und Bekannten infolge eines Bebens zu Schaden gekommen ist. Wie wichtig sind persönliche Erfahrungen? Und wie wirken Medien­berichte?

Gerade die spektakulären Berichte haben wenig Einfluss auf das Gefahrenbewusstsein. Sie wecken eher eine Faszination für die Naturgefahr und die Vorstellung, dass es einen nicht treffen kann: Es passiert den «armen anderen». Wer hingegen persönliche Erfahrungen gemacht hat, entwickelt ein stärkeres Bewusstsein für die Gefahr und ist eher bereit, vorsorglich zu handeln. Aber nicht nur das individuelle Erleben, auch Erfahrungen in der Gemeinschaft sind wirksam, insbesondere in ländlichen Gebieten mit starker sozialer Integration. Hier erinnert man sich auch länger an extreme Ereignisse. In der kollektiven Erinnerung bleiben bisweilen Ereignisse haften, die mehrere Jahrzehnte zurückliegen, während sich die individuelle Erinnerung im Normalfall höchstens auf die letzten 15 Jahre erstreckt.

Zugleich aber ist bekannt, dass selbst Menschen mit dramatischen Erfahrungen ihre Häuser oft am gleichen Ort wieder aufbauen.

Das eigene Zuhause ist sehr eng verbunden mit der persönlichen Identität: Man will sich hier sicher und souverän fühlen, Bedrohungen haben da keinen Platz. Am Zuhause hängt auch viel Prestige und sozialer Status. Man gesteht ungern ein, dass man der Natur weichen muss.

Ein hohes Risikobewusstsein führt also nicht unbedingt zu einer entsprechenden Handlung?

Nein, das sehen wir ja auch bei Glücksspielen. Jeder Spieler ist sich bewusst, dass die Wahrscheinlichkeit eines Verlustes sehr hoch ist – und trotzdem wird gespielt. Wenn andere Werte wichtiger sind, sind Wahrscheinlichkeiten wenig relevant.

Interessant ist, dass in Ihrer Befragung eine grosse Mehrheit angibt, lieber in Sicherheit zu ­investieren als Schäden durch Naturgefahren hinzunehmen. Sie ist sich auch ihrer Verantwortung bewusst, selbst etwas zum Schutz beizutragen. Gleichzeitig aber verhält sie sich erstaunlich passiv. Wie erklären Sie diese Diskrepanz?

Ein Grund ist, dass die Leute in den Schutz vertrauen, den die Behörden und Einsatzkräfte leisten. Auch die gute Abdeckung durch die Versicherung hält viele davon ab, selbst etwas für ­ihren Schutz zu tun. Zudem ist eine Mehrheit davon überzeugt, dass für sie der Aufwand in keinem angemessenen Verhältnis zum Nutzen steht. Zweifellos aber tragen auch das fehlende Wissen und die als beschränkt wahrgenommene Selbstwirksamkeit zur Passivität bei.

Wie lässt sich dieses Wissen am wirksamsten vermitteln?

Entscheidend ist, dass die Vorsorge hinsichtlich Naturgefahren sozial relevant ist und dass sie zu einem lokalen Gesprächsthema wird. Zu einem Thema, das alle angeht. Wenn einer Sandsäcke kauft, soll er nicht fürchten müssen, als «Angsthase» gebrandmarkt zu werden. Vorsorge soll für etwas Vorbildliches stehen. Gefahrenkarten wären eine günstige Gesprächsgrundlage. Auch Ausstellungen, Wettbewerbe oder Führungen zu Spuren von früheren Ereignissen können das geteilte Bewusstsein für Naturgefahren stärken und das Vorsorgeverhalten beeinflussen.

Die Sicherheit vor Naturgefahren ist vor allem dort relevant, wo kurz zuvor ein Ereignis stattgefunden hat. Wo länger nichts oder überhaupt noch nie etwas passiert ist, misst ihr die Bevölkerung im Vergleich mit anderen Sorgen und Interessen eher wenig Bedeutung zu. Wie kann die Sicherheit vor Naturgefahren dennoch zum lokalen Gesprächsthema avancieren?

Indem das Thema mit den Hauptsorgen der Bevölkerung in Verbindung gebracht wird. Das kann zum Beispiel die touristische Entwicklung der Region oder der künftige Umgang mit regionalen Ressourcen wie Wasser, Boden oder Wald sein. Besonders relevant sind solche integrativen Ansätze im Hinblick auf den Klimawandel, der umfassende und teure Schutzmassnahmen erfordern wird.

Gedächtnisstützen für die vergessliche Schweiz

Obschon Hochwasser zum Teil grosse Schäden anrichten und den Direktbetroffenen stark zusetzen, gehen sie schnell wieder vergessen. Innerhalb weniger Jahre verschwinden sie in der Regel aus dem Bewusstsein der Bevölkerung. Mit der Onlineplattform «ueberschwemmungsgedaechtnis.ch» hat das Mobiliar-Lab für Naturrisiken der Universität Bern nun eine «kollektive Gedächtnisstütze» ins Leben gerufen. Auf der Plattform werden Bilder (Stiche, Aquarelle usw.) und Fotos von Überschwemmungen aus der ganzen Schweiz öffentlich zugänglich gemacht. Sie lassen sich sowohl nach Standorten als auch nach Zeitpunkt suchen; das momentan älteste verfügbare Bild geht auf das Jahr 1572 zurück. Die Betreiber der Plattform rufen die Bevölkerung auf, eigene Aufnahmen von Überschwemmungen auf der Website hochzuladen und die Bildersammlung laufend zu ergänzen. Das «kollektive Überschwemmungsgedächtnis» soll das Wissen um Hochwassergefahren bekannter machen. Auch kann es Entscheidungsgrundlagen für die Hoch­wasserprävention liefern und die Betroffenen für Schutzmassnahmen sensibilisieren. Mithilfe von Bildern lassen sich die Auswirkungen von Überschwemmungen eindrücklich aufzeigen.

Naturereignisse (Wasser, Rutschung, Sturz und Lawine) sammelt auch die Datenbank

StorMe: Sie richtet sich primär an Fachleute, grundsätzlich kann aber auch die Bevölkerung Ereignisse melden (Erstmeldungen). Verschiedene Kantone präsentieren den Ereigniskataster StorMe öffentlich, zum Beispiel auf ihren Geoportalen.

Weiterführende Informationen

Kontakt
Letzte Änderung 03.06.2020

Zum Seitenanfang

https://www.bafu.admin.ch/content/bafu/de/home/themen/naturgefahren/dossiers/magazin2020-2-dossier/gefahrenbewusstsein.html