Schadstoffe aus der Industrie: Bei komplexen Industrieabwässern besteht Handlungsbedarf

Industriebetriebe sind verpflichtet, ihre Abwässer so sauber wie möglich zu halten, um Flüsse und Seen nicht mit Schadstoffen zu verschmutzen. Doch für viele Betriebe ist es schwierig zu ermitteln, welche Substanzen in ihrem Abwasser drin sind – und wie es folglich aufbereitet werden müsste.

Text: Brigitte Wenger

Löscharbeiten in Schweizerhalle
Die Löscharbeiten einen Tag nach dem Brand in Schweizerhalle 1986 – das Unglück schwemmte giftiges Löschwasser in den Rhein und zeigte auf, wie wichtig Gewässerschutz ist.
© Michael Kupferschmidt | Keystone

Am 1. November 1986 floss der Rhein rot durch Basel. In Schweizerhalle, einem Industriegebiet flussaufwärts, stiessen meterhohe Flammen aus einer Lagerhalle des Pharma­konzerns Sandoz, heute Novartis. Tonnen giftiger Herbizide, Insektizide und Quecksilberverbindungen verbrannten, versickerten im Boden oder flossen zusammen mit den rund 15 Millionen Liter Löschwasser in den Fluss. Eine Markierungsfarbe im Löschwasser färbte den Rhein rot. Unzählige Fische starben, und es dauerte Jahre, bis sich der Fluss und seine Wasserlebewesen erholten.

Schweizerhalle reihte sich ein in eine Liste von Ortschaften, die für Chemiekatastrophen stehen. Wie Flixborough (GB) mit dem Reaktorleck 1974 oder Seveso im Norden Italiens mit dem hochgiftigen Dioxin 1976. Diese drei Vorfälle waren aber auch Meilensteine für den Umweltschutz, denn sie zeigten die Risiken der Industrie auf. Als Folge von Schweizerhalle beschloss die Schweiz 1991 die Störfallverordnung, die Betrieben unter anderem vorschreibt, Löschwasser in Rückhaltebecken zu sammeln. Zudem legten das Gewässerschutzgesetz (1991) und die zugehörige Verordnung (1998) Grenzwerte für Schadstoffe in Abwässern verschiedener Branchen fest.

Dadurch ist die Belastung der Schweizer Gewässer aus Industrie und Gewerbe in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zurückgegangen. Trotzdem stammen auch heute noch 20 Prozent der Mikroverunreinigungen aus diesem Bereich. Bis zu 30 000 Betriebe leiten ihr – teilweise vorbehandeltes – Abwasser in zentrale Kläranlagen ein. Rund 50 Betriebe vor allem aus der chemisch-pharmazeutischen Industrie und der Lebensmittelbranche leiten ihre Abwässer direkt in Gewässer ein. Die sind dazu verpflichtet, ihr Abwasser rechtskonform in der eigenen Kläranlage zu reinigen. Daneben fliessen noch immer Verunreinigungen aus Altlasten als Folge früherer Industrie­produktionen in Oberflächengewässer und ins Grundwasser.

Grenzwerte lösen das Problem nicht

Gemäss dem Gewässerschutzgesetz sind Betriebe verpflichtet, so wenig Stoffe wie möglich in die Kanalisation oder die Gewässer einzuleiten. Dafür müssen sie «nach dem Stand der Technik übliche Massnahmen treffen, soweit diese betrieblich machbar und wirtschaftlich tragbar sind». Doch: In der Industrie werden heutzutage unzählige Chemikalien produziert und eingesetzt. Zusätzlich entstehen während den Produktionsprozessen und der Abwasserreinigung verschiedene Umwandlungsprodukte. Daher ist es für die Betriebe schwierig zu wissen, welche Stoffe in ihrem Abwasser enthalten sind, um es dann zielgerichtet zu behandeln.

«Die Abwassergrenzwerte aus den 90er-Jahren werden gut eingehalten», sagt Saskia Zimmermann-Steffens von der Sektion Siedlungswasserwirtschaft des BAFU. «Die Schwierigkeit heute ist, dass Betriebe der Pharma- oder Galvanikbranche nicht genau wissen, welche Stoffe in ihrem Abwasser enthalten sind.» Dies bestätigte eine Situationsanalyse des Verbands Schweizer Abwasser- und Gewässerschutzfachleute VSA 2022. Sind die Stoffe unbekannt, ist eine massgeschneiderte Abwasserbehandlung – wie vom Gewässerschutzgesetz verlangt – nicht möglich und die Auswirkung auf die Umwelt ungewiss. Hier besteht Handlungsbedarf.

«Industriebetriebe und Kantone, die die Abwässer kontrollieren, kommen auf uns zu und fragen nach konkreten Grenzwerten», sagt Zimmermann-Steffens. «Aber es ist unrealistisch, für alle Stoffe einen Grenzwert festzuschreiben. Der Begriff ‹Stand der Technik› ist zwar schwer greifbar, aber er ermöglicht es uns, gemeinsam mit Partnern aus Industrie, Verbänden, Wissenschaft und Kantonen massgeschneidert für jede Branche die fortschrittlichste Lösung für die Aufbereitung zu finden.»

Immer neue Altlasten

Eine der Partnerinnen, die lieber konkrete Vorgaben als Interpretationsspielraum hätte, ist Christine Genolet-Leubin, Chefin der Dienststelle für Umwelt des Kantons Wallis. Das Wallis ist neben der Pharmastadt Basel der zweite grosse Chemiestandort der Schweiz. Auf Genolet-Leubins Schreibtisch liegen entsprechend viele Altlastendossiers: Aus der Lonza-­Deponie Gamsenried tritt krebserregendes Benzidin ins Grundwasser, Böden sind mit Quecksilber kontaminiert, hochgiftige und kaum abbaubare PFAS (Per- und polyfluorierte Alkylverbindungen) sind in Gewässern und Fischen nachgewiesen.

«Wir haben im Wallis mit der Geologie des Rhonetals die Besonderheit, nah am Grundwasser zu sein», sagt Genolet-Leubin. Dieses Grundwasser wird als Trinkwasser und in der Landwirtschaft für die Bewässerung genutzt, und es tauscht sich mit den Oberflächengewässern aus. Im Oktober 2022 hat der Kanton Karten mit erhöhten Schadstoffbelastungen im Grundwasser veröffentlicht. Darauf ist zu sehen, dass Trinkwasserentnahmestellen nicht betroffen sind, die landwirtschaftliche Bewässerung aber schon.Genolet-Leubin geht die Sanierung der Altlasten systematisch an. Sie kommuniziert offen und öffentlich, das nimmt Druck weg. «Ich frage mich, wann wir alle Altlasten entdeckt haben werden», sagt die Chefin der Dienststelle Umwelt. Und lässt damit anklingen, dass sie sich von der industriellen Vergangenheit ihres Kantons nicht mehr überraschen lässt.

So werden Gewässer überwacht

Gewässer tragen Stoffe kilometerweit – auch über Landesgrenzen. Um die Gewässerqualität zu kontrollieren und bei einer Verunreinigung zu warnen, arbeitet der Bund deshalb mit den Kantonen und mit anderen Ländern zusammen:

Die CIPEL (Commission internationale pour la protection des eaux du Léman) ist die französisch-schweizerische Zusammenarbeit zum Schutz des Genfersees. Der Kanton Wallis misst als Haupteinzugsgebiet regelmässig, welche Stoffe die Rhone in welcher Menge in den Genfersee schwemmt: Arzneimittelreststoffe aus der Industrie, Pestizide aus Landwirtschaft und Privathaushalten, Abwässer von Strassen und Bahnlinien. Mit der regelmässigen Messung lassen sich die Verschmutzungen zurückverfolgen.

Die Rheinüberwachungsstation (RÜS) Weil am Rhein bei Basel misst, was aus der Schweiz nach Deutschland fliesst. Sie ist die weltweit modernste Wasserqualitätsmessung und entdeckt auch Stoffe, nach denen sie nicht gezielt sucht. Die RÜS ist eine direkte Folge des Chemieunfalls in Schweizerhalle.

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Letzte Änderung 13.09.2023

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