1.12.2021 - Dank rechtzeitiger Warnungen des Bundes vor Hochwassern lassen sich kostspielige Schäden vermeiden. Demnächst bietet das BAFU die hydrologischen Vorhersagen für Flüsse und Seen auch im Einzugsgebiet des Doubs an und schliesst damit eine der letzten Lücken im schweizweiten Netz.
Text: Kaspar Meuli
Der Sommer 2021 fiel weitgehend ins Wasser. Eine Endlosschlaufe von Südwestströmungen schob im Juni und Juli fast permanent feuchtlabile Luft – mit eingelagerten kräftigen Gewittern – in den Alpenraum. Allein in der Periode vom 12. bis zum 15. Juli fielen in der Schweiz verbreitet mehr als 100 Liter Regen pro Quadratmeter auf bereits stark durchnässte Böden. Dementsprechend führten viele Fliessgewässer Hochwasser. An der Messstation Bern-Schönau flossen am frühen Nachmittag des 16. Juli 561 Kubikmeter Wasser pro Sekunde durch das Bett der Aare. Dieser Wert liegt gut 29 Prozent über dem bisherigen Juli-Rekord und nur 52 Kubikmeter unter der je gemessenen Höchstmarke von 613 Kubikmetern im nassen Mai 1999. Das BAFU rief für die Aare denn auch die höchste Gefahrenstufe 5 aus.
Matte-Quartier geschützt
Anders als etwa im Katastrophen-Sommer 2005 – mit Schäden durch Hochwasser von rund 3 Milliarden Franken im gesamten Land – stand das nahe der Aare gelegene Berner Matte-Quartier aber dieses Mal nicht meterhoch unter Wasser. Bereits am 10. Juli – also noch vor dem intensiven Dauerregen – baute nämlich die lokale Feuerwehr entlang des Stadtflusses mobile Hochwasserschutzinstallationen auf. Sie stützte sich bei ihren vorsorglichen Massnahmen auf die rechtzeitigen Warnungen des BAFU, den damals bereits hohen Wasserstand und die Wetterprognosen, die für das Einzugsgebiet der Aare tagelange Intensivniederschläge vorhersagten. Grössere Schäden an Gebäuden und Infrastruktur liessen sich auch dadurch verhindern, dass die Rettungskräfte im Bereich der Schwellen in der Matte das Schwemmholz regelmässig entfernten. Weil der sichere Wasserdurchfluss der Aare dadurch jederzeit gewährleistet war, konnte es gar nicht erst zu einem gefährlichen Rückstau der Wassermassen kommen. Zudem hatte die Regulierungsbehörde des Kantons Bern noch vor dem grossen Regen den Wasserstand des Thunersees vorsorglich abgesenkt.
Hochwasser gehören in unserem Land zu den kostspieligsten Naturgefahren. Obwohl die Schweiz viel für den Schutz vor Naturgefahren leistet und fortschrittliche Ansätze verfolgt, leben nach wie vor 1,8 Millionen Menschen in hochwassergefährdeten Gebieten. Zudem befinden sich 1,7 Millionen Arbeitsplätze sowie Sachwerte im Umfang von 840 Milliarden Franken in solchen Gefahrenzonen. Überdies zeichnet sich ab, dass dieses Gefahrenpotenzial durch die Klimaveränderung und die immer intensivere Landnutzung weiter zunimmt.
Verlässliche Hochwasservorhersagen sind für die Schweiz also von grosser Bedeutung. Wenn es darum geht, das Schadensausmass zu reduzieren, erweisen sich die Warnung und die Alarmierung als besonders kostenwirksame Massnahmen. Erfolgen sie rechtzeitig, ermöglichen sie präventives Handeln – etwa den Aufbau von mobilen Schutzbauten oder die Evakuation der Bevölkerung.
Neu auch für den Doubs
Im Hochwasserdispositiv des Bundes fällt dem BAFU die Aufgabe zu, Behörden und Bevölkerung vor Hochwasser zu warnen. «Mit unserem hydrologischen Vorhersagedienst leisten wir vor und während eines Ereignisses einen Beitrag zum integralen Risikomanagement», betont Therese Bürgi, Chefin der BAFU-Sektion Hydrologische Vorhersagen. Das BAFU hat in den vergangenen Jahren den Vorhersagedienst laufend ausgebaut und für immer mehr Flussgebiete entsprechende Modelle erstellt. Nun wird mit dem Einzugsgebiet des Juraflusses Doubs an der französisch-schweizerischen Grenze in den kommenden Monaten die letzte grössere Lücke geschlossen.
Der breiten Öffentlichkeit sind die aktuellen Abflüsse und Wasserstände der Fliessgewässer und Seen bereits seit Jahren zugänglich. Heute finden Interessierte auf dem Internetportal des BAFU unter hydrodaten.admin.ch Mehrtagesprognosen für rund 50 Messstationen. Den Behörden stehen solche Vorhersagen auf der Gemeinsamen Informationsplattform Naturgefahren (GIN) für rund 200 Stationen zur Verfügung.
Ins Rollen kam der Ausbau der Hochwasservorhersagen durch das Projekt Optimierung von Warnung und Alarmierung bei Naturgefahren (OWARNA). Es wurde im Nachgang zu den verheerenden August-Hochwassern in den Jahren 2005 und 2007 im Auftrag des Bundesrates ins Leben gerufen.
Die ersten Hochwasserprognosen gab es hierzulande bereits in den 1980er-Jahren – damals allerdings nur für das Einzugsgebiet des Rheins. «Während der vergangenen Jahre haben wir zunehmend die ganze Schweiz hydrologisch abgedeckt, das heisst auch die ausländischen Zuflüsse in unsere Gewässer», erklärt Karsten Jasper, BAFU-Experte für hydrologische Modelle. «Parallel zu diesem Ausbau hat das Amt auch die Infrastruktur auf den neusten technischen Stand gebracht.» Ein mehrköpfiges Fachteam analysiert permanent die aktuelle Situation sowie den Verlauf der Pegelstände und der Abflüsse und sagt anhand von Computermodellen die künftige Entwicklung vorher.
Breite Palette von Messdaten
Zur Kundschaft, der das BAFU die täglichen Prognosen anbietet, zählen Kantons- und Gemeindebehörden, aber auch Unternehmen wie Wasserkraftwerke oder Schifffahrtsgesellschaften. Die Vorhersagen basieren auf einer Kombination von gemessenen und modellierten Daten. So stammen die Wetterdaten von rund 1000 Stationen und werden vom Bundesamt für Meteorologie und Klimatologie (MeteoSchweiz), den Kantonen und dem angrenzenden Ausland geliefert. Dagegen misst das BAFU die hydrologischen Daten entweder selbst an seinen automatisierten hydrometrischen Stationen oder bezieht sie von den Kantonen. An den übers Land verteilten Messstandorten wird eine Vielzahl von Parametern erfasst – so etwa Niederschlagsmenge, Temperatur, Sonneneinstrahlung, Abflüsse und Wasserstände. Zusätzlich berechnet das Modell Informationen über den schweizweiten Zustand der Wasserspeicher, des Bodens, des Grundwassers und der Schneedecke. Die Zusammenarbeit mit MeteoSchweiz ist nicht nur für den Bezug von Wetterdaten wichtig. «Wir nutzen auch die mehrtägigen Wetterprognosen als Input für unsere hydrologischen Modelle», erklärt Karsten Jasper. Während Hochwasserereignissen steht das BAFU mit MeteoSchweiz und den Kantonen jeweils in engem Kontakt, um die Situation fundiert beurteilen zu können. Der Bund publiziert dann laufend aktualisierte Vorhersagen und erneuert die entsprechenden Warnungen.
Hinter den Vorhersagen stecken also komplexe Computermodelle, die vor ihrem operationellen Einsatz ausführlich geeicht und getestet worden sind. Das BAFU-Prognoseteam setzt derzeit verschiedene hydrologische Modelle ein. Im Zentrum steht das modulare Abfluss- und Wasserhaushaltsmodell WaSiM, das sich seit 20 Jahren in Forschung und Praxis bewährt. Doch aller ausgeklügelten Software zum Trotz bleibt die menschliche Erfahrung bei der Beurteilung der Resultate wichtig. «Die Interpretation der hydrologischen Vorhersagemodelle durch die Prognostikerin oder den Prognostiker ist zentral», sagt Karsten Jasper. Dieses Know-how kann die Kundschaft auch im direkten telefonischen Kontakt nutzen.
Wichtig für die Planung
Das BAFU veröffentlicht jedoch nicht nur Hochwasserwarnungen. Zu den Vorhersageprodukten gehören auch hydrologische Bulletins, die zweimal wöchentlich die aktuelle Situation, die Wetterentwicklung und die hydrologischen Vorhersagen für die nächsten drei Tage zusammenfassen. Die auch in Form von Grafiken veröffentlichten Modellresultate zeigen die Messwerte der letzten Stunden sowie die erwarteten Stundenmittelwerte für die kommenden drei Tage.
Verlässliche Informationen über künftige Abflüsse und Wasserstände sind nicht nur in Bezug auf Naturgefahren entscheidend. Auch Reedereien, Kraftwerke oder Unternehmen mit grossem Bedarf an Nutzwasser benötigen für ihre Planung hydrologische Vorhersagen. Nicht zu vergessen sind zudem die Behörden, welche die Verantwortung für die Regulierung der Seen tragen. Die Pegelstände der meisten grösseren Schweizer Seen schwanken nämlich nicht auf natürliche Weise, sondern werden anhand von Regulierreglementen mittels Schleusen gesteuert. Bei grossen Hochwassern wird das zum Teil erhebliche Rückhaltevolumen der Seen genutzt, und die Steuerung erfolgt aufgrund ausgehandelter Absprachen zwischen allen Beteiligten.
Das BAFU wird die eingesetzten Modelle weiter verfeinern. Es will ab Sommer 2023 auch bei der Hochwasserwarnung für kleinere Flüsse mehrere Gefahrenstufen unterscheiden können. Gleichzeitig plant das Amt, in ausgewählten Testgebieten eigene Erfahrungen mit hydrologischen Kurzfristvorhersagen (Nowcasting) zu sammeln.
Mehr Niedrigwasserprognosen
In Zukunft könnten die BAFU-Prognosen noch aus weiteren Gründen an Bedeutung gewinnen. «Die hydrologischen Vorhersagen sind zwar für Hochwasser aufgebaut worden», sagt Sektionschefin Therese Bürgi, «doch wir können auch in Trockenheitssituationen wertvolle Informationen in Form von Niedrigwasserprognosen für Seen und Flüsse liefern – so zum Beispiel für die Schifffahrt.» Diese Dienstleistung des Bundes zuhanden von Behörden, Bevölkerung und Wirtschaft möchte das BAFU künftig ausbauen. Mit dem Klimawandel werden Flüsse und Seen in der Schweiz zu gewissen Zeiten deutlich weniger Wasser führen als heute. Situationen wie im Oktober 2018 könnten vermehrt auftreten. «Rheinschifffahrt ab Basel wegen Niedrigwasser eingestellt» meldete damals Radio SRF, das Niedrigwasser habe historische Werte erreicht, und es verkehrten keine Containerschiffe mehr. Solche Extremsituationen lassen sich mit hydrologischen Vorhersagen zwar nicht verhindern, doch können die Prognosen zur besseren Planung von Massnahmen beitragen.
Weiterführende Informationen
Letzte Änderung 01.12.2021