Verkehr: «App statt Auto»

Die Digitalisierung hat das Zeug, unsere Mobilität grundlegend zu verändern. Die neuen Möglichkeiten reichen vom selbstfahrenden Auto bis zur Mobilitäts-App, die vom Mietvelo über Taxi und Nachtzug alle Verkehrsangebote bündelt. Bloss: Wie gut ist diese Entwicklung für die Umwelt?

Text: Kaspar Meuli

© ExPress | Emanuel Ammon | BAFU

Ausgerechnet die Senioren sind von den selbstfahrenden Kleinbussen in Sitten besonders angetan, wie Rückmeldungen der Passagiere zeigen. Mit diesem Ergebnis hatte 2016 beim Start des bisher grössten Schweizer Versuchs mit automatisierten Fahrzeugen wohl niemand gerechnet. Mittlerweile hat das Busunternehmen PostAuto im Stadtzentrum der Walliser Hauptstadt mit zwei elektrischen Shuttlebussen über 50 000 Passagiere befördert – und das Pilotprojekt wird weitergeführt. Es hat sich als komplex und technisch anspruchsvoll erwiesen. Starker Schneefall etwa überfordert die Sensoren der automatisierten Busse. Und nach wie vor – so wollen es die Vorschriften – braucht es ständig einen PostAuto-Mitarbeiter an Bord. Den Stand des Projekts fasst PostAuto so zusammen: «Wir versuchen, in kleinen Schritten die Komplexität zu erhöhen.» Längerfristig seien selbstfahrende Busse «auf der letzten Meile als Zubringer für den ÖV» denkbar. Bestehende Linien auf automatisch fahrende Fahrzeuge umzustellen, sei nicht geplant.

So weit die Realität von selbstfahrenden Autos auf den Schweizer Strassen. Ziemlich unspektakulär und Welten von den Fantasien der Mobilitätsvordenker und Investorinnen entfernt, die sich von den Möglichkeiten der Digitalisierung in Bann schlagen lassen. «Das Tempo bei der Entwicklung von autonomen Fahrzeugen ist atemberaubend», schreibt etwa das Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen KPMG.

Auch in der Schweiz wird eifrig zu den Auswirkungen der Digitalisierung auf den Verkehr geforscht. So haben die ETH Zürich und die SBB im Jahr 2018 angekündigt, 100 Millionen Franken in eine «Mobilitätsinitiative» zu investieren. Das Bundesamt für Strassen (ASTRA) finanziert das Forschungspaket «Verkehr der Zukunft», und die Stiftung für Technologiefolgen-Abschätzung TA-SWISS arbeitet an einer Expertenstudie zu selbstfahrenden Autos.

Ökosystem der Mobilitätsoptionen

Wie genau und in welchem Zeitraum die Digitalisierung unsere Mobilität verändern wird, lässt sich aller Studien zum Trotz nicht sagen. Zu wenig konkret sind die Anwendungsmöglichkeiten der neuen Technologien auf unseren Strassen – und zu unsicher ist der künftige Umgang damit. Klar ist hingegen, dass es um weit mehr geht als um Autos ohne Lenk-
räder. Was schon bald auf uns zukommen könnte, sind Busse, die nicht mehr auf fixen Routen und nach starrem Fahrplan unterwegs sind, sondern sich nach den Bedürfnissen der Passagiere richten. Was schon Realität ist: Unterwegssein mit verschiedensten Transportmitteln, die sich via Smartphone über eine einzige App buchen und bezahlen lassen. Fachleute sprechen in diesem Zusammenhang von einem «Ökosystem der Mobilitätsoptionen» und von «Mobility as a Service». Die Fahrt im eigenen Transportmittel wird dabei durch ein Angebot verschiedener Mobilitätsdienste ersetzt.

In Helsinki ist zu erleben, wie die Zukunft des Verkehrs ohne Privatauto aussehen könnte. Dort er­möglicht eine «Whim» genannte Reiseplanungs-App den Nutzerinnen und Nutzern, den für ihre Fahrt bestmöglichen Verkehrsmittelmix auszuwählen. Berücksichtigt werden neben Bus und Bahn auch Carsharing-Angebote, Mietwagen und -velos und Taxis. Besonders innovativ am Angebot: Wer viel unterwegs ist, kann ab 500 Euro pro Monat eine Mobilitäts-Flatrate abschliessen und alle Verkehrsmittel unbegrenzt nutzen. Die Firma MaaS Global, die hinter Whim steckt, hat grosse Pläne: Bereits gibt es zusätzliche Whim-Standorte in Grossbritannien und Belgien, weitere in Europa und Asien sollen dazukommen.

Doch wie wirkt sich diese schöne neue Welt der frei kombinierbaren Fortbewegungsmöglichkeiten und autonomen Fahrzeuge auf die Umwelt aus? Verzichten die Menschen, zumindest in den Städten, ganz aufs eigene Auto? Oder werden wir als Gesellschaft noch mobiler und setzen dem Klima deswegen noch mehr zu? «Es gibt keine Garantie, dass sich die Digitalisierung positiv auf die Umwelt auswirkt. Dafür braucht es politische Entschlossenheit und die richtigen Rahmenbedingungen», betont Lorenz Hilty, der sich als Informatikprofessor an der Universität Zürich mit Fragen der Nachhaltigkeit der digitalen Transformation beschäftigt. 2017 hat er im Auftrag von WWF und Swisscom die möglichen Folgen der Digitalisierung für den Klimaschutz in der Schweiz untersucht.

Mehr oder weniger Verkehr?

Wird die Energie und damit die Mobilität nicht generell teurer, warnt Hilty, sei ein «Horrorszenario» denkbar: selbstfahrende Autos zum Beispiel, die stundenlang leer herumkurven, weil sie keine Parkplätze finden. Möglich wäre auch, dass automatische Fahrzeuge dem ÖV das Wasser abgraben. Weshalb mit dem Zug pendeln, wenn sich noch bequemer im eigenen Auto arbeiten lässt? Die Pendeldistanzen könnten ebenfalls zunehmen, wenn Autofahren nicht länger mit Stress verbunden ist, und damit auch die Zersiedelung.

Im günstigsten Fall hingegen erweist sich die Digitalisierung als Schlüssel zur Lösung unserer Verkehrsprobleme und wäre damit für die Umwelt durchaus positiv. «Die grosse Frage ist, ob die digitalisierte Mobilität mehr oder weniger Platz braucht», erklärt Klaus Kammer von der Sektion Umweltbeobachtung des BAFU und gibt zu bedenken, dass heute in innerstädtischen Gebieten bis zu 50 Prozent des Raums durch Strassen und Parkflächen belegt sein können. Das hat viel mit der ineffizienten Nutzung unserer Autos zu tun: 95 Prozent der Zeit stehen sie herum, und wenn sie unterwegs sind, dann meistens mit einer einzigen Person darin. Kann die Digitalisierung hier mit Lösungen, die den Bedürfnissen vieler Menschen gerecht werden, Abhilfe schaffen, ist ihr positives Potenzial beträchtlich.

Simulationen zeigen, dass in grossstädtischen Räumen die Anzahl Fahrzeuge um bis zu 90 Prozent gesenkt werden könnte, wenn der gesamte Verkehr durch selbstfahrende Sammeltaxis bewältigt würde. Kommt dazu, dass autonome Autos den Verkehr sicherer machen können und dass sie dichter aufschliessen, wodurch Staus vermindert werden. Und: Sinkt die Unfallgefahr, können Autos leichter gebaut werden, was ihren Energieverbrauch senkt und Materialien einspart.

Neue Formen von Carsharing

Eine solche Zukunft bedeutet aber Abschied nehmen vom Auto als persönlichem Refugium – und damit tut sich unsere Autogesellschaft schwer. So werden zum Beispiel seit Jahren Fahrgemeinschaften auf dem Arbeitsweg propagiert, doch in der Praxis haben sie sich bisher nicht durchgesetzt. Genauso wenig wie das private Carsharing, dem die Firma Sharoo in der Schweiz zum Durchbruch verhelfen will.

Die Idee ist: Sharoo bietet seinen Benutzerinnen und Benutzern eine Plattform, auf der sie ihre Autos stundenweise an andere vermieten können. Doch trotz intensivem Marketing und prominenten Geldgebern wie Amag, Migros und Mobiliar kommt die Firma nicht vom Fleck. Derzeit sind von den 4,6 Millionen Personenfahrzeugen auf Schweizer Strassen gerade mal 1800 Autos in der Sharoo-Datenbank registriert. Das ernüchternde Fazit: Schweizer Autobesitzer sind offenbar nicht gewillt, ihr Auto für ein paar Franken Nebenverdienst Fremden zu überlassen.

Mehrheitsaktionärin von Sharoo ist übrigens die Autoimporteurin AMAG. Das ist kein Zufall – auch die grossen Autofirmen suchen intensiv nach neuen Geschäftsfeldern. BMW und Daimler etwa haben mit DriveNow und car2go je ein Carsharing nach dem sogenannten Free-floating-Prinzip aufgebaut und sind damit in mehreren Dutzend Städten in Europa und den USA präsent. Im Unterschied zum Schweizer Anbieter Mobility gibt es dabei keine festen Mietstationen. Um ein Auto zu finden, genügt ein Griff zum Smartphone. Die Carsharing-App zeigt alle in der Nähe verfügbaren Fahrzeuge, und nach der Fahrt kann der Wagen auf irgendeinem öffentlichen Parkplatz abgestellt werden. Der VW-Konzern wiederum experimentiert mit einem «Ridesharing» genannten Konzept, das auf flexible öffentliche Kleinbusse setzt (siehe Box).

Doch es sind bei Weitem nicht nur die traditionellen Mobilitätsanbieter wie Autofirmen und Bahn­gesel­lschaften, die sich ein Stück vom verheissungs­vollen digitalen Kuchen abschneiden wollen. Von den 50 Milliarden Franken, die gemäss KPMG in den vergangenen fünf Jahren in die Entwicklung selbstfahrender Autos geflossen sind, stammen nur 30 Prozent von der Automobilbranche, die restlichen 70 Prozent von Unternehmen wie Google und Amazon).

Ungeklärte Datenschutzfragen

Auch bei neuen Mobilitätsdienstleistungen mischen Aussenstehende die Szene auf. Das 2016 gegründete Berner Start-up Fairtiq beispielsweise hat eine neuartige Ticket-App für den öffentlichen Verkehr entwickelt. Das Fairtiq-Angebot: Die Passagiere müssen im Voraus keine Billette mehr lösen – und dies auf dem ganzen Streckennetz des Generalabonnements. Wer Zug, Tram oder Bus fahren will, muss beim Einsteigen nur noch eine App aktivieren und sie beim Aussteigen wieder stoppen. Am Abend berechnet sie automatisch den Preis für die zurückgelegten Strecken, die sie mittels GPS-Ortung aufgezeichnet hat, und bucht ihn von einer Kreditkarte ab.

Die Tatsache, dass eine Ticket-App – Fairtiq ist nur einer von mehreren Anbietern in der Schweiz – jederzeit weiss, wo sich die Kundschaft aufhält und die entsprechenden Informationen vielseitig verwenden kann, macht Konsumentenschützerinnen und Datenschutzbeauftragte hellhörig. Werden die Reisedaten, so eine der Fragen, wirklich nur anonymisiert ausgewertet? Oder viel grundsätzlicher: Welchen Preis sind wir für die Verheissungen der Mobilität von morgen zu zahlen bereit? Und: Wie lässt sich verhindern, dass die Digitalisierung nicht einfach zum Selbstzweck wird, angetrieben vom technisch Machbaren? Lorenz Hilty von der Universität Zürich weist auf einen weiteren Aspekt hin: Je stärker unsere Welt digitalisiert sei, desto anfälliger werde sie für Pannen und Hackerangriffe. «Ich vermisse das Bewusstsein, dass wir die Digitalisierung als Gesellschaft sehr reflektiert vorantreiben müssen.»

Individualisierter ÖV

Die Grenzen zwischen öffentlichem Verkehr (ÖV) und Individualverkehr verschwinden, zumindest, wenn das Beispiel von Moia Schule macht. Seit Sommer 2018 bietet die Tochterfirma von VW in Hannover sogenanntes Ridesharing an. Stand dieser Begriff ursprünglich für Mitfahrgelegenheiten, versteht Moia darunter eine Flotte von rund 80 Kleinbussen, die im Stadtgebiet von Hannover Passagiere einsammeln, die in die gleiche Richtung fahren wollen. Herzstück des Systems ist ein intelligenter Algorithmus, der die Routen berechnet und die siebenplätzigen Busse koordiniert. Fahrgäste können auf einer App Start und Ziel eingeben und erfahren, wo und wann sie abgeholt werden, was die Fahrt kostet und wann sie voraussichtlich am Ziel eintreffen. Bezahlt wird automatisch über eine hinterlegte Kreditkarte. Die neue Dienstleistung scheint einem Bedürfnis zu entsprechen. Die Flotte in Hannover wird laufend ausgebaut, und seit Frühling 2019 gibt es Moia auch in Hamburg. Ob das Angebot wirklich dazu führt, dass möglichst viele Menschen auf ein eigenes Auto verzichten, wird sich zeigen. Nicht auszuschliessen ist nämlich, dass es sich bei den Moia-Kunden um Leute handelt, die seit eh und je mit dem ÖV unterwegs sind.

Offene Haftungsfragen

Einige Hürden auf dem Weg zur digitalen Mobilität stellen einheitliche technische Standards und rechtliche Unsicherheiten dar. Besonders bei selbstfahrenden Fahrzeugen ergeben sich heikle Haftungsfragen. Wer ist schuld an einem Unfall: Die Hersteller von Wagen und Software? Der Besitzer des Fahrzeugs? Diese Fragen beantwortet der Bundesrat im Bericht «Automatisiertes Fahren – Folgen und verkehrspolitische Auswirkungen» nicht abschliessend. Eine «grundlegende Änderung» des Haftungs- und Motorfahrzeugversicherungssystems sei «voraussichtlich nicht nötig». Denkbar ist allerdings, dass künftig nicht nur der Halter, sondern auch der Fahrzeughersteller, der Navigationsdienstleister und andere Infrastrukturbetreiber in die Pflicht genommen werden könnten.

Bereits in Gang sind gesetzliche Anpassungen in einem anderen Bereich: Der Bundesrat will eine Gesetzesänderung, die es innovativen Anbietern ermöglicht, unterschiedliche Verkehrsmittel gezielter als bisher zu kombinieren. Damit könnten Vermittler von Mobilitätsdiensten massgeschneiderte Angebote erstellen, die auf die Bedürfnisse der Bevölkerung zugeschnitten sind. Deshalb sollen neu auch branchenfremde Anbieter Daten über das Verhalten von ÖV-Passagieren erhalten, und sie sollen ihre Angebote via ÖV-Unternehmen verkaufen dürfen.

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Letzte Änderung 04.09.2019

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