Integrale Strategie: Mehr Sicherheit und weniger Risiko für Mensch und Umwelt

Chemikalien sind aus unserem Leben nicht wegzudenken. Aber sie bergen auch Risiken. Gefährdungen, die von industriell hergestellten chemischen Stoffen ausgehen können, zeigen sich mitunter erst im Nachhinein. Mit einer integralen Strategie zur Chemikaliensicherheit will der Bund Mensch und Umwelt schützen.

Text: Kaspar Meuli

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© Yves Roth | Ex-Press | BAFU

Mehr als 10 000 Schweizer Schulklassen haben sich in den letzten Jahren Flaschen aus dem Putzschrank ganz genau angesehen. Nicht die Vorderseite mit den klingenden Namen, sondern die Rückseite mit den Produkteinformationen. Zum Beispiel einen «Superreiniger mit Activ-Power» für verschmutzte Backöfen. Auf solchen Produkten sind seit spätestens 2017 neue Gefahrensymbole zu sehen. Im Fall des Backofenreinigers ein Ausrufezeichen und ein verendeter Fisch. Die Symbole warnen vor Gefahren für die menschliche Gesundheit und der Schädigung von Wasserlebewesen. Die Schullektion ist Teil einer Kampagne zum verantwortungsvollen Umgang mit chemischen Produkten im Alltag, mit der verschiedene Bundesämter in den vergangenen Jahren über die neue Gefahrenkennzeichnung für chemische Produkte GHS informiert haben. Initiiert wurde das «Globally Harmonized System» von der UNO.

Die Bekanntmachung der neuen Gefahrensymbole fügt sich in die «Strategie Chemikaliensicherheit» ein, die das BAFU, das Bundesamt für Gesundheit (BAG) und das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) gemeinsam erarbeitet haben. «Diese Strategie verfolgt eine Vision», sagt Martin Schiess, Chef der Abteilung Luftreinhaltung und Chemikalien beim BAFU. «Ziel ist, dass sich Chemikalien während ihres ganzen Lebenszyklus nicht mehr schädlich auf die Umwelt und die Gesundheit von Menschen auswirken.» Es gibt aber auch chemische Produkte wie Biozide und Pflanzenschutzmittel, deren Wirkung auf Lebewesen in der Umwelt beabsichtigt ist. Sie sollen so eingesetzt werden, «dass (möglichst) keine schädlichen Nebenwirkungen auftreten.»

Jährlich 400 Millionen Tonnen Chemikalien

Wie allgegenwärtig chemische Produkte und Technologien sind, belegen Zahlen wie diese: 1930 wurden weltweit 1 Million Tonnen Chemikalien hergestellt, heute sind es 400 Millionen Tonnen jährlich. Oder: In Europa werden mehr als21 000 chemische Stoffe in Mengen über 1 Tonne pro Jahr auf den Markt gebracht – und laufend kommen neue dazu. Aus diesen Stoffen wird eine schier unüberblickbare Fülle unterschiedlichster Produkte fabriziert. Auch wenn uns das oft nicht bewusst ist, prägen Chemikalien alle Bereiche unseres Lebens und stellen eine Grundlage für unseren hohen Lebensstandard dar. Doch ihr Potenzial ist noch längst nicht ausgeschöpft. Die Energiewende etwa ist ohne chemische Innovationen nicht denkbar: das reicht von der Herstellung effizienterer Batterien über die Entwicklung synthetischer Treibstoffe aus CO2 oder aus erneuerbaren Rohstoffen bis zur Produktion von Solarzellen und dem Bau energiesparender Häuser.

Die Schweizer Chemie- und Pharmabranche spielt bei der Entwicklung und Herstellung von Chemikalien traditionell eine wichtige Rolle. Neben der starken Position in den Bereichen Pharmazeutika, Diagnostika und Vitamine wird auch bei Agrochemikalien, Aroma- und Riechstoffen sowie Feinchemikalien eine Ausrichtung auf Produkte mit hoher Wertschöpfung angestrebt. Und dies mit grossem Erfolg. Die miteinander verwandten Bereiche Chemie, Pharma und Biotech stehen bei den schweizerischen Exporten «unangefochten an der Spitze», wie ihr Wirtschaftsverband scienceindustries schreibt. Zusammen sind sie für 45 Prozent der Ausfuhren verantwortlich und exportierten 2017 Waren im Wert von über 98 Milliarden Franken.

Vergiftungen: 10 000 Anfragen

So viel zu den Sonnenseiten. Die Schattenseiten: Chemikalien bergen Gefahren für Mensch und Umwelt. Bestimmte chemische Stoffe können zum Beispiel den Zustand von Gewässern ernsthaft und langfristig beeinträchtigen oder die menschliche Gesundheit schädigen. Tox Info Suisse, die nationale Informationsstelle für Vergiftungsfälle, beantwortet jährlich über 10 000 Anfragen zu im Haushalt und in der Arbeitswelt genutzten Produkten. Da es keine Meldepflicht von Vergiftungen gibt, dürfte die tatsächliche Anzahl Vorfälle mit chemischen Produkten weit höher liegen.

Für die Umwelt – und damit indirekt auch für die Menschen – sind besonders Chemikalien problematisch, die persistent, bioakkumulierbar und toxisch (sogenannte PBT-Stoffe) sind. Das bedeutet: Sie sind langlebig, können sich in Lebewesen anreichern und sind bereits in sehr geringen Konzentrationen gesundheitsschädigend. PBT-Stoffe verursachen vielfältige Schädigungen. Sie beeinflussen das Immun-, Nerven- und Hormonsystem, führen zur Störung von Fruchtbarkeit und Fortpflanzungsfähigkeit oder verursachen Krebs. Kommt dazu, dass sie sich entlang von Nahrungsketten anreichern. Tiere an deren Ende, wie etwa Greifvögel, Raubfische und Raubtiere, sind mit den höchsten Konzentrationen belastet.

Ähnlich negative Folgen haben langlebige, organische Schadstoffe, die über weite Strecken transportiert werden können, sogenannte Persistent Organic Pollutants (POP). Ein internationales Abkommen, das Stockholmer Übereinkommen, hat zum Ziel, diese Stoffe langfristig weltweit aus der Produktion zu eliminieren und Einträge in die Umwelt zu minimieren. Diese Übereinkunft ist nur eine von zahlreichen Bemühungen der internationalen Staatengemeinschaft, globale Probleme mit Chemikalien gemeinsam anzugehen. «Die Schweiz spielt bei der Weiterentwicklung dieser Abkommen eine sehr aktive Rolle», sagt Felix Wertli, Chef der Sektion Globales beim BAFU. «Wir setzen uns für ein umfassendes und effizientes internationales Chemikalienregime ein.» Die Schweizer Gesetzgebung orientiert sich aktuell an derjenigen der EU, der Schrittmacherin in Sachen Chemikalienregulierung, setzt aber auch Vorgaben aus internationalen Abkommen um.

Neue Erkenntnisse

Das Chemikalienrecht wird nicht nur internationalweiterentwickelt. Auch in der Schweiz wird es laufend angepasst und wurde im Verlauf der Zeit deutlich verschärft. Das hat einerseits damit zu tun, dass neue Erkenntnisse über gefährliche Eigenschaften und Risiken von Stoffen, die einst als unbedenklich galten, verfügbar sind. Andrerseits ging man bis vor wenigen Jahrzehnten generell viel weniger vorsichtig mit Chemikalien und Abfällen um. Davon zeugen nicht zuletzt die rund 38 000 belasteten Standorte in der Schweiz, von denen voraussichtlich 4000 von den Altlasten befreit und saniert werden müssen – von Hinterhöfen, in denen Firmen früher chlorierte Kohlenwasserstoffe (CKW) entsorgten, die sie zum Entfetten von Metallteilen brauchten, bis zur Sondermülldeponie von Kölliken (AG), deren Sanierung gegen 1 Milliarde Franken kostete.

Zahlreiche durch Chemikalien verursachte grosse Umweltprobleme konnten erkannt und gelöst werden. Doch die Öffentlichkeit bleibt skeptisch, denn in der Vergangenheit wurde sie immer wieder mit neuen katastrophalen Auswirkungen konfrontiert, die Produktion und Verwendung von Chemikalien für Gesundheit und Umwelt haben können. Dazu gehören der Dioxinskandal in Seveso (IT) in den 1970er-Jahren oder der Chemieunfall von Schweizerhalle (BL) 1986. Damit sich dies ändert, bemühen sich Umweltschutz- und Entwicklungsorganisationen gemeinsam mit Unternehmen in verschiedenen Initiativen darum, zum Beispiel die Bedingungen in der gesamten Wertschöpfungskette der Textilindustrie zu verbessern. Das Ziel ist, dass weniger CO2 freigesetzt und weniger Wasser verbraucht wird, weniger Chemikalien in die Umwelt gelangen und der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz verbessert wird.

Hersteller verantwortlich

«Zu Recht erwartet die Bevölkerung vom Staat, dass Chemikalien so reguliert werden, dass die Risiken für Umwelt und Gesundheit kontrolliert sind», sagt Kaspar Schmid, Chef des Ressorts Chemikalien und Arbeit im SECO.

Dank laufend weiterentwickelter Vorschriften, so Schmid, würden die Risiken minimiert. Vom Gesetzgeber wird in erster Linie die Industrie in die Pflicht genommen. Denn seit 2005 gilt in der Schweiz das Prinzip der Selbstkontrolle. Will heissen: Die Hersteller sind für die Sicherheit der von ihnen hergestellten oder importierten Chemikalien selbst verantwortlich. Sie müssen nachweisen, dass ihre Produkte weder Menschen noch die Umwelt gefährden, und sie müssen berufliche Verwender sowie Konsumenten und Konsumentinnen über den sicheren Umgang damit informieren. Eine zentrale Bedeutung kommt denn auch dem Chemikalienmanagement zu.

Spezielle Vorschriften gelten für Pflanzenschutzmittel (PSM) und für Biozidprodukte. Für diese Produktgruppen gilt eine Zulassungspflicht, das heisst, sie dürfen nur vermarktet werden, nachdem sie von den Bundesbehörden, gestützt auf die vom Gesuchsteller vorgelegten Prüfdaten, für sicher befunden und zugelassen worden sind. Im Rahmen des Zulassungsverfahrens beurteilt das BAFU, ob Biozidprodukte, die neu auf den Markt gebracht werden, nur akzeptable Auswirkungen auf die Umwelt haben. 2016 waren in der Schweiz rund 260 Biozidwirkstoffe und 330 PSM-Wirkstoffe auf dem Markt. Davon kommen 39 Stoffe sowohl als Pflanzenschutzmittel wie auch als Biozid zum Einsatz.

Umgang «stark verbessert»

Die Bundesbehörden kontrollieren aber auch, ob die Industrie die Vorschriften über die Selbstkontrolle bei Industriechemikalien, die keiner Zulassungspflicht unterstellt sind, beachten. So wurde kürzlich eine schweizweite Überprüfung der Einstufung von Ablaufreinigern durchgeführt, weil bei deren Verwendung gefährliche Gase entstehen können. Dabei zeigte sich, dass die Hersteller bei vielen der geprüften Produkte die gefährlichen Eigenschaften nicht korrekt ermittelt hatten. In der Folge mussten sie die Einstufung und Gefahrenkennzeichnung anpassen. Die Kantone ihrerseits überprüfen durch Stichproben, ob auf den Markt gebrachte Produkte den gesetzlichen Bestimmungen entsprechen, etwa bezüglich ihrer Kennzeichnung.

Derartigen Verfehlungen zum Trotz sieht Steffen Wengert, Leiter der Abteilung Chemikalien im BAG, die Entwicklung der letzten Jahrzehnte positiv: «Die Sicherheit im Umgang mit Chemikalien hat sich stark verbessert. Zeichnen sich jedoch neue Risiken ab, müssen wir diese immer wieder sorgfältig beurteilen.» Doch wo lauern diese Gefahren? Wäre beispielsweise der Grossbrand von Schweizerhalle mit seinen katastrophalen Auswirkungen auf den Rhein heute noch denkbar? «Solche Unfälle werden sich hoffentlich in der Schweiz dank der Störfallvorsorge nicht mehr ereignen», sagt Martin Schiess vom BAFU. Ein anderes Thema, das uns in den nächsten Jahren beschäftigen werde, seien mögliche chronische Wirkungen von einzelnen Stoffen und deren Kombinationen in niedrigen Konzentrationen auf Umwelt und Gesundheit. «Über solche Auswirkungen ist noch wenig bekannt, und sie werden bei der Bewertung von Risiken kaum betrachtet.» Auf dem Weg zu einer Chemie ganz ohne schädliche Auswirkungen auf Mensch und Umwelt, so betont Schiess in seiner Bilanz, seien aber nicht nur Industrie und Behörden gefragt: «Auch Konsumentinnen und Konsumenten können nachhaltigen Lösungen zum Erfolg verhelfen.» 

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Letzte Änderung 28.11.2018

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