28.01.21 – Seit einigen Jahren drückt der Klimawandel der Landschaft vermehrt seinen Stempel auf. Das Berggebiet ist von den steigenden Temperaturen besonders betroffen. Im Bergell (GR) haben die Verantwortlichen vor Ort ein Projekt aufgegleist, das die Schutzbauten gegen Naturgefahren behutsam in die historische Kulturlandschaft einpasst. Ein guter Grund also, um Bregaglia für den Landschaftspreis des Europarats zu nominieren.
Freud und Leid liegen oft nahe beieinander. Im Jahr 2015 honorierte der Schweizer Heimatschutz die Gemeinde Bregaglia (auf deutsch: Bergell) mit dem Wakker-Preis für den sorgfältigen Umgang mit ihren wertvollen baukulturellen und landschaftlichen Qualitäten. Zwei Jahre später sah die Talschaft eben dieses kostbare Erbe akut gefährdet: Ein Felssturz, der sich am 23. August 2017 an der Nordflanke des Piz Cengalo ereignete, führte anschliessend zu mehreren Murgängen, die sich in der Val Bondasca bis an den Rand des Ortskerns von Bondo schoben. Sie zerstörten Brücken, Strassen und Häuser und trennten die historisch zusammengewachsenen Dörfer Bondo und Promontogno.
Bereits nach einem Bergsturz im Dezember 2011 waren aus der Val Bondasca im Sommer 2012 Murgänge niedergegangen. In der Folge errichtete die Gemeinde ein grosses Auffangbecken. «Der Bau war umstritten, denn wir mussten dafür einen Campingplatz und einen schönen Wald opfern», erzählt die damalige Gemeindepräsidentin Anna Giacometti. «Doch nachträglich muss man sagen: Zum Glück haben wir das Becken gebaut!». Denn sonst wären die Schlammmassen mit den haushohen Felsblöcken wohl bis weit ins Dorf Bondo gedrungen. «Die Natur fragt nicht, ob sie Landschaft und Baukultur zerstört», erklärt Anna Giacometti. «Es ist dann Aufgabe der Menschen, den Wiederaufbau schön und sicher zu gestalten». Dieser Zweiklang aus Schönheit und Schutz hat dem Bergeller Projekt die Nominierung für den europäischen Landschaftspreis eingetragen.
Sich gegen künftige Ereignisse wappnen
Den Verantwortlichen vor Ort war klar: Das Bergell muss – wie viele Orte im Berggebiet – auch künftig mit Felsstürzen und Murgängen rechnen. Dies umso mehr, als mit dem Klimawandel extreme Niederschläge zunehmen werden und der in hohen Lagen dauerhaft gefrorene Boden auftauen und an Stabilität verlieren wird. Es galt also, nicht nur die durch den Schuttstrom verursachten Schäden zu beheben, sondern auch die Dörfer und Infrastrukturen im Tal vor künftigen Ereignissen zu schützen und die dafür notwendigen Schutzbauten in die Landschaft zu integrieren. Die Gemeinde führte daher zunächst eine Analyse der jüngsten Vorfälle durch, um sodann auf dieser Basis Gefährdungsszenarien zu entwerfen und ein Vorprojekt für die neuen Verbauungs- und Verkehrsanlagen zu erarbeiten. Dieses Vorprojekt wiederum diente als Grundlage für einen Wettbewerb, bei dem Planungsteams eingeladen wurden, Vorschläge für die Gestaltung der neuen Anlagen einzureichen.
Ein Preisgericht, bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern der Gemeinde Bregaglia, des Kantons Graubünden und diverser Fachpersonen für Architektur, Ingenieurwesen, Landschaftsplanung und -architektur sowie Wasserbau, erkor aus neun Vorschlägen denjenigen aus, der die Verbauungen zum Schutz vor Naturgefahren und die neu angelegten Verkehrswege am besten ins Ortsbild und in die Kulturlandschaft einfügt.
Typische Landschaftselemente ins Neue integriert
Das Siegerprojekt trägt den Titel «Strata» («Schichten», vom lateinischen «Stratum») - und sein Name ist Programm: Es führt die Streifen aus Felsbändern und Natursteinmauern, welche die Landschaft prägen, in den neu gestalteten Verkehrs- und Siedlungsraum über. Mauern werden die Strassen und Wege säumen, und die Ränder des Beckens, das künftig allfällige Schlammlawinen aufnehmen soll, sind als gemauerte Terrassierungen geplant. Die neuen Brücken wiederum sollen mit ihrer leicht gewölbten Unterlinie an die Tradition der Bergeller Bogenbrücken anschliessen – und zugleich den Durchfluss verbessern und damit die Angriffsmöglichkeiten von Hochwasser und Geschiebe minimieren.
Aus Sicht des Gemeindepräsidenten Fernando Giovanoli, der zudem als Architekt Mitglied der Jury war, besticht das Siegerprojekt in seiner Gesamtheit: «Die Verkehrsführung funktioniert gut, und unterirdische Durchgänge wurden als originelle Lösung vorgeschlagen, um die Auffangbecken zu leeren». Die hohe Qualität verdankt das Projekt nicht zuletzt seinem interdisziplinären Ansatz: «Als Jurymitglied hatte man den Eindruck, dass ein Team an der Arbeit war, das alle Knackpunkte gemeinsam behoben hat.» Für Bregaglia sei es ein Jahrhundertwerk, das auch für künftige Generationen von Bedeutung sein werde und daher als Ganzes überzeugen müsse, so der Gemeindepräsident.
Der Landschaftsdynamik Rechnung tragen
Überzeugt hat das Vorhaben von Bregaglia auch die Jury, welche die Schweizer Kandidatur für den Landschaftspreis der Europäischen Landschaftskonvention zu bestimmen hat. Das vorbildliche Vorgehen, das die Gemeinde gewählt hat, um ihre hohen kulturlandschaftlichen Werte und ihr bauliches Erbe zu bewahren und dennoch bestmöglich vor Naturgefahren zu schützen, gab den Ausschlag für die Nomination. Dass man nicht versucht, die Zerstörungen durch den Bergsturz rückgängig zu machen, sondern vielmehr absehbaren Naturereignissen Platz in der Landschaft einräumt, macht die Stärke des Bergeller Ansatzes aus. Er setzt Massstäbe auch für andere Gemeinden, die mit Naturgefahren leben müssen.
Ein Preis für hohe landschaftliche Werte
Am 23. November 2021 hat das Ministerkomitee des Europarats den Landschaftspreis an die Stadt Bergamo und das Astinotal verliehen für ihre Wettbewerbseingabe «Biodiversität in der Stadt». Das Schweizer Dossier «Val Bregaglia» erhielt eine Anerkennung für den grossen Wert des Projektes. Zudem betonte das Komitee wie wichtig es sei, dieses als Inspirationsquelle bekannt zu machen.
Der Klimawandel verstärkt die Dynamik der Landschaft
Seit dem späten 19. Jahrhundert ist die Erwärmung im Alpenraum rund doppelt so stark ausgefallen wie im weltweiten Durchschnitt. Schmilzt in der Höhe der gefrorene Untergrund, geraten Berghänge ins Rutschen. Zudem werden extreme Niederschläge häufiger und intensiver, sodass auch das Risiko für Murgänge zunimmt. Daher landet mehr Geschiebe in den Bächen und Flüssen, was den Aufwand für den Gewässerunterhalt vergrössert. Letztlich sind es meistens verschiedene Faktoren, die das Risiko von Naturgefahren erhöhen. Fest steht indes, dass bei der Gestaltung der Landschaft ihrer Dynamik und ihrem Charakter Rechnung getragen werden muss. Diese Zielsetzungen verfolgt auch das Landschaftskonzept Schweiz, das der Bundesrat 2020 verabschiedet hat. Unter anderem mit dem Anspruch, Eingriffe sorgfältig und qualitätsorientiert in die Landschaft einzufügen sowie natürliche Dynamik zuzulassen.
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Letzte Änderung 29.01.2021