Gefährdungskarte Oberflächenabfluss: Quantensprung für die Prävention von Wasserschäden

Selbst Fachleute haben die Hochwasserrisiken durch oberflächlich abfliessendes Wasser lange Zeit unterschätzt. Nun werden die bestehenden Gefahrengrundlagen bis 2018 in der ganzen Schweiz vervollständigt. Die neuen Karten für den Oberflächenabfluss basieren auf Computermodellen. Der Kanton Luzern setzt sie seit 2016 erfolgreich ein.

Text: Lukas Denzler 

Am 2. Mai 2013 entlädt sich über dem Kanton Schaffhausen ein heftiges Gewitter – eine für den Frühling klassische Wettersituation. Doch für den normalerweise kaum von Hochwasser betroffenen Kanton fallen die Schäden ausserordentlich hoch aus. Personen kommen zwar nicht ums Leben, aber in einem Schaffhauser Tierheim ertrinken rund 40 Tiere. Die nach dem Unwetter vom Kanton erarbeitete Ereignisanalyse zeigt das Ausmass deutlich auf. «Wir zählten 530 beschädigte Gebäude mit einer Schadensumme zwischen 20 und 25 Millionen Franken», sagt Jürg Schulthess, Leiter der Abteilung Gewässer im Kanton Schaffhausen. Auch ein weiterer Befund hat überrascht. Über die Ufer getretene Bäche verursachten nämlich nur einen geringen Teil der Schäden. «Für mehr als 90 Prozent der Schadenfälle war sogenannter Oberflächenabfluss verantwortlich.» Dieser wird auch als Oberflächen- oder Hangwasser bezeichnet und entsteht, wenn die Niederschläge nicht im Boden versickern, sondern über das offene Gelände abfliessen.

Mit 180 beschädigten Gebäuden, das heisst fast jedem siebten Haus, war die Gemeinde Stetten nördlich von Schaffhausen besonders stark betroffen. Schäden in diesem Ausmass hatte die Bevölkerung hier bisher noch nie erlebt, obwohl das Phänomen bei starken Niederschlägen nicht unbekannt war.

Schaffhausen gelangt an den Bund

Das Unwetter vom Mai 2013 hat in Schaffhausen Politik und Gesellschaft für den Hochwasserschutz sensibilisiert. Eine Rolle spielte dabei auch, dass der kantonale Werkhof komplett unter Wasser stand, was im Ereignisfall denkbar ungünstig ist. Die Überschwemmungen lösten mehrere Schutzvorhaben baulicher Art aus. «Wir reichten beim Bund auch ein Projekt mit Massnahmen zum Schutz vor Oberflächenabfluss in Stetten ein», sagt Jürg Schulthess. Doch beim BAFU stellte sich die Frage, wie das Gesuch zu behandeln sei. Denn es war unklar, ob das Bundesgesetz über den Wasserbau bei dieser Art von Überschwemmung überhaupt zur Anwendung kommt. Die juristischen Grundlagen betreffen nämlich in erster Linie den Hochwasserschutz an Bächen und Flüssen. Doch inzwischen ist der Sachverhalt im Sinne des Kantons Schaffhausen geklärt. Im Frühling 2017 startete das Pilotprojekt in Stetten: Um den Oberflächen-abfluss in geordneten Bahnen an den Häusern vorbeizulenken, ist eine Kombination von Geländegestaltungen, Anpassungen der Strassengefälle, definierten Abflusswegen und Rückhaltemassnahmen vorgesehen.

So werden die Oberflächenabflusskarten erstellt
Diese Gefährdungskarte für den Oberflächenabfluss nach intensiven Niederschlägen illustriert, wie tief die einzelnen Gebiete einer Siedlung unter Wasser stehen könnten.
© Kanton Luzern, Verkehr und Infrastruktur (vif)

Public-private-Partnership

Die Bedeutung des Oberflächenabflusses sei bereits um die Jahrtausendwende erkannt worden, sagt Roberto Loat von der Abteilung Gefahrenprävention beim BAFU. Doch erst die gesamtschweizerische Analyse der Hochwasserereignisse vom August 2005 habe das volle Ausmass mit Zahlen untermauert: «Vielerorts ist der Oberflächenabfluss für 50 Prozent der Überflutungsschäden verantwortlich.» Auch die Schadenstatistiken der Versicherungen bestätigen diesen Befund inzwischen. Karten zum Oberflächenabfluss fehlen aber heute noch weitgehend. Einzelne Kantone lokalisieren die entsprechenden Risiken zwar punktuell als Hinweisflächen oder deuten mittels Pfeilen die Fliessrichtung des Wassers an. Doch eine schweizweite systematische Erfassung existiert bisher nicht.

Um diese Lücke zu schliessen, erstellt das BAFU nun für die ganze Schweiz eine flächendeckende Gefährdungskarte zum Oberflächenabfluss. Die Arbeiten erfolgen gemeinsam mit dem Schweizerischen Versicherungsverband (SVV) und dem Interkantonalen Rückversicherungsverband (IRV), einer Gemeinschaftsorganisation der Kantonalen Gebäudeversicherungen. Das Projekt wird als Public-private-Partnership (PPP)-Vorhaben durchgeführt, wobei die Kartierung auf Computermodellen basiert. Einem hochaufgelösten digitalen Terrainmodell wird eine Karte mit den Bodeneigenschaften überlagert, die das Abflussverhalten bestimmen. Das dritte Element bildet die bei einem seltenen Ereignis während einer Stunde auftretende Niederschlagsmenge. Die daraus resultierende Karte stellt die Fliesswege des Oberflächenwassers, die betroffenen Flächen sowie die zu erwartenden Wassertiefen dar.

Die Methode ist 2009 in Langnau am Albis (ZH) erarbeitet und anschliessend in Verbier (VS), Heiden (AR) und Lyss (BE) erfolgreich weiterentwickelt worden. «Vergleiche der Karte mit realen Schadendaten der Versicherungen haben gezeigt, dass die Methode in den meisten Fällen sehr gute Resultate liefert», stellt Roberto Loat fest. «Im innerstädtischen Bereich stösst sie jedoch an ihre Grenzen.» Dort beeinflussen Kanalisationen, Strassen, Bauten und das Mikrorelief die Fliesswege des Wassers massgeblich, also Faktoren, welche sich mit den verwendeten Datensätzen nur beschränkt abbilden lassen. Die generell sehr positiven Erfahrungen haben das BAFU veranlasst, eine gesamtschweizerische Kartierung zu planen.

Lyss setzt auf Oberflächenabflusskarte

In Lyss kam es 2007 innerhalb von nur drei Monaten zu drei Überschwemmungen mit Schäden von insgesamt 110 Millionen Franken. Dafür verantwortlich war zum einen der berüchtigte Lyssbach, zum anderen aber auch oberflächlich abfliessendes Wasser. Zur Vermeidung von Schäden durch Oberflächenabfluss seien nach 2007 erste Massnahmen getroffen worden, sagt Ruedi Frey, Leiter der kommunalen Abteilung Planung + Bau. Weil fundierte Grundlagen jedoch weitgehend fehlten, nutzte die Gemeinde 2010 die Gelegenheit, welche sich mit der Erfassung der Oberflächenabflüsse in den Testregionen ergab.

2014 stellte sich die Frage, wie man die Ergebnisse in der Praxis umsetzen kann. «Wir integrierten die Oberflächenabflüsse in die Gefahrenkarte», erläutert Adrian Kunz, der in Lyss für den Tiefbau zuständig ist. Damit sind die Wassergefahren nun auf einer einzigen Karte ersichtlich. Die neue Karte ist erst provisorisch, und die Exekutive sowie das Gemeindeparlament müssen sie noch genehmigen. «Im Unterschied zu den klassischen Gefahrenkarten wird die Oberflächenabflusskarte aber lediglich einen hinweisenden Charakter haben», sagt Ruedi Frey. Künftig soll das Bauinspektorat bereits bei Voranfragen für Bauprojekte auf mögliche Oberflächenabflüsse hinweisen und die Ge-fährdung im Rahmen des Baubewilligungsverfahrens schriftlich im Bauentscheid festhalten. Bereits vor einigen Jahren hat Lyss zudem die Bestimmung eingeführt, dass die höhere Lage einer Liegenschaft aus Gründen des Hochwasserschutzes nicht mehr auf Kosten der maximal zulässigen Bauhöhe geht. Wer also zum Beispiel das unterste Geschoss einer Wohnnutzung nicht bodeneben, sondern als Hochparterre konzipiert, um der Überschwemmungsgefahr vorzubeugen, soll trotzdem die in der jeweiligen Bauzone zulässige Geschosszahl realisieren können. 

Überschwemmung in Schüpfheim (LU) durch Oberflächenabfluss nach einem starken Gewitter im Juni 2015. Der Kreis in der Karte signalisiert den Aufnahmeort, und der rote Pfeil zeigt die Fliessrichtung des Hangwassers an. Je dunkler die lila Farbe, desto höher kann der Wasserstand ausfallen.
© Schadensbilder; Karte GVL

Der Kanton Luzern geht voran

Die Ergebnisse zur Erfassung der Oberflächenabflüsse in den vier Testregionen überzeugten auch die Abteilung Naturgefahren bei der Dienststelle für Verkehr und Infrastruktur des Kantons Luzern sowie die Gebäudeversicherung Luzern (GVL). Als sich aufgrund der unklaren gesetzlichen Grundlagen Verzögerungen bei der schweizweiten Kartierung abzeichneten, ergriff der Kanton 2015 selber die Initiative. In Abstimmung mit dem BAFU erstellte das beauftragte Ingenieurbüro auf Basis der in den Testgebieten erprobten Methode eine Oberflächenabflusskarte für den gesamten Kanton im Massstab 1 : 12 500. «Die Karte ist erstaunlich präzis», bilanziert Claudio Wiesmann, Projektleiter Risikomanagement bei der Abteilung Naturgefahren des Kantons Luzern. Mit knapp 80 000 Franken waren die Produktionskosten vergleichsweise moderat. 

Die seit Anfang 2016 eingesetzte Karte kommt derzeit vor allem Bauherrschaften, Architektur- und Planungsbüros sowie der Gebäudeversicherung zugute. Für Markus Wigger, den Leiter der Elementarschadenprävention bei der Gebäudeversicherung Luzern, stellt die neue Oberflächenabflusskarte einen Quantensprung in der Prävention dar, obwohl sie rechtlich nicht verbindlich ist. Als wertvoll erachtet er vor allem den Informationsgehalt des neuen Instruments. «Ergibt die Prüfung eines Baugesuchs bezüglich Naturgefahren eine potenzielle Gefährdung durch Oberflächenabfluss, so können wir die Bauherrschaft und die mit der Planung betrauten Personen dank der Karte dafür sensibilisieren.» Die bisherigen Schadenfälle decken sich nahezu vollständig mit den kartografisch erfassten Gefährdungsperimetern. Gemäss Markus Wigger ist es nun wichtig, das neue Planungsinstrument besser bekannt zu machen. Deshalb hat die Gebäudeversicherung Luzern im Frühjahr alle kommunalen Bauämter im Kanton darüber informiert.

«Die erfolgreiche Umsetzung im Kanton Luzern hat das Projekt begünstigt, eine landesweite Oberflächenabflusskarte zu erstellen», sagt Roberto Loat vom BAFU. Läuft alles nach Plan, sollte das neue Instrument für die gefahrengerechte Planung und den Bau von Liegenschaften sowie für die nachträgliche Konzeption von Gebäudeschutzmassnahmen bereits 2018 für die ganze Schweiz vorliegen. Die Karte wird öffentlich zugänglich sein und über ein Geoportal allen Interessierten zur Verfügung stehen.

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Letzte Änderung 28.08.2017

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