Risikoanalysen: «Wir waren wie Detektive»

Zürich steht mitten im Überschwemmungsgebiet der Sihl; Schäden sind im Ereignisfall also zu erwarten. Doch wo und in welcher Höhe? Und wie lassen sie sich so gut als möglich vermeiden? Ein Rundgang mit Expertin und Experte.

Text: Christian Schmidt

Renaturalisierungsarbeiten an der Sihl beim Hauptbahnhof in Zürich.
© Peter Baracchi | BAFU

Vor dem Hauptbahnhof fliesst der Verkehr. Dörte Aller, Risikomanagerin mit langjähriger Erfahrung, und Matthias Oplatka, Sektionsleiter Bau beim kantonalen Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft (AWEL), sind bereit für einen Rundgang. Aller schickt voraus: «Nach dieser Führung werden Sie die Stadt mit anderen Augen sehen.» Sie wird recht behalten.

Hochwasser im Untergrund

Wir tauchen in die unterirdische Welt des Hauptbahnhofs ein. Mitten im Pendlerstrom sagt Oplatka: «In Zürich findet Hochwasser vor allem im Untergrund statt. An der Oberfläche rechnen wir an den meisten Orten mit maximal einem halben Meter Wasser. Es sieht also nicht so spektakulär aus wie bei einem Hochwasser im Berner Mattequartier.» Aller ergänzt: «Beim letzten grossen Hochwasser in Zürich, im Jahr 1910, fuhren die Menschen noch mit Pferdefuhrwerken durch die überschwemmten Strassen. Heute wären die Konsequenzen viel grösser. Was, wenn der Bahnhof auch nur eine Woche ausser Betrieb wäre?» Eine halbe Million Menschen nutzt ihn Tag für Tag.

Wie also mit diesen Risiken umgehen? Wie sie abschätzen und bewerten? Wie sie reduzieren? Das sind Fragen, mit denen sich Aller und Oplatka zusammen mit weiteren Fachpersonen und Betroffenen seit dem Hochwasser 2005 beschäftigen. Damals war die Stadt knapp einer Katastrophe entgangen. Anlass genug, die Risiken zu untersuchen und Lösungen zu entwickeln.

Wir gehen durch das unterirdische Einkaufszentrum ShopVille. Aller erzählt von den Anfängen: «Wir machten eine Bestandsaufnahme, und das hiess: die Stadt erkunden. Sowohl mit dem Computer wie auch zu Fuss. Wir waren wie Detektive. Es galt die Konsequenzen möglicher Hochwasser abzuschätzen und herauszufinden, welche Faktoren die Risiken am stärksten beeinflussen. Sind es die Häufigkeit des Hochwassers, die betroffene Fläche und deren Nutzung oder die Verletzlichkeit der Bauten und Installationen?» Die Sihl gefährdet nicht nur 3000 Gebäude, sondern auch die Infrastruktur. Oplatka: «Im Untergrund gibt es unzählige Leitungszentralen, Serverräume, Heiz- und Kühlsysteme. Kommt Wasser in die Untergeschosse, wird es gefährlich und teuer.»

Wir kehren an die Oberfläche zurück und gehen der Löwenstrasse entlang. «Was fällt Ihnen auf?», fragt Aller den Journalisten. «Nun – eigentlich nichts.» Doch, da ist ein Detail. Einige Hauseingänge liegen zwei Treppenstufen über dem Niveau der Strasse. Oplatka: «Viele der Häuser wurden kurz nach 1910 gebaut, das heisst noch unter dem Eindruck des damaligen Hochwassers.» Zwei Stufen seien genug, doch inzwischen habe man längst vergessen, wie sinnvoll solch simple Massnahmen seien.

Und, wie hoch können die Schäden werden? Oplatka: «Sehr hoch. Bei einem Hochwasser, wie es alle paar Hundert Jahre vorkommt, müssen wir mit Kosten von über 6,7 Milliarden Franken rechnen.» Aber nicht alle Schäden lassen sich beziffern, zum Beispiel Betriebsunterbrüche oder Schäden an der Umwelt. Diese können ein Mehrfaches betragen. Die Wahl der Schutzmassnahmen muss alle Risiken berücksichtigen. Oplatka: «Daher ist es wichtig, alle Akteure frühzeitig einzubeziehen, von verschiedenen Amtsstellen bis zu betroffenen Betrieben. So schaffen wir Bewusstsein und Verständnis. Laien und Fachleute tauschen sich aus.»

Wie viel Risiko akzeptieren?

Wir bleiben beim Parkhaus Gessnerallee an der Sihl stehen. Bei der Ausfahrt, drei Meter unter Boden und somit hochwassergefährdet, befindet sich ein Sitzungszimmer. Aller erklärt: «Wir haben dort ganz gezielt Besprechungen abgehalten. Das schafft Bewusstsein für das Risiko. In Diskussionen haben wir gelernt, den Fokus anders zu setzen. Statt nur die Risiken zu minimieren, überlegen wir nun auch, wie viel Risiko wir akzeptieren können.» Wolle man in Zürich null Risiko, hätten einige Stadtteile gar nicht gebaut werden dürfen. Hier einen akzeptablen Mittelweg zu finden, sei das Ziel. «Das ist ein intensiver Prozess.»

Auf der Gessnerbrücke überqueren wir die Sihl. Oplatka zeigt auf den Fluss, der an diesem Tag still unter den Geleisen des Hauptbahnhofes hindurchfliesst. Doch die Sihl kann auch toben und wüten. Oplatka: «Treibholz, mitgerissene Autos oder Baucontainer können Brückendurchlässe verstopfen. Dann haben wir hier Land unter.» Damit diese Situation nur noch äusserst selten eintritt, hat der Kanton eine Reihe von Massnahmen zur Zähmung der Sihl eingeleitet (siehe auch Box S. 23). Ein Restrisiko bleibt aber.

Letzte Station: Europaallee, Neubauten ragen in den Himmel. Oplatka deutet bei einem der Gebäude auf Bodenplatten, die rund um einen Lichtschacht angeordnet sind. Beim nächsten Hochwasser – wann immer das sein wird – wird hier ein mobiler Schutz installiert. Oplatka fragt: «Wissen die verantwortlichen Personen dann noch, wie das funktioniert?» Ein fest eingebauter Schutz sei wirk­samer, da im Stress des Notfalls niemand Hand anlegen müsse. Aller: «Für alle Massnahmenarten ist zu prüfen, welche Wirkung sie haben und wie robust sie funktionieren. Jede Massnahme hat ihren Sinn. Wichtig ist zu wissen, wie sie konkret zur Risikoreduktion beiträgt.»

Eine der wichtigsten Erkenntnisse, die Oplatka seit dem Hochwasser im Jahr 2005 gewonnen hat: Um Risiken erfolgreich zu steuern, muss bei allen Betroffenen ein Bewusstsein für das Risiko geschaffen werden. Hochwasserschutz sei Teamwork und funktioniere nur, wenn das Thema immer wieder diskutiert werde.

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Letzte Änderung 03.06.2020

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