Hangmuren: Wann «explodiert» ein Hang?

Hangmuren können Menschenleben bedrohen und grosse materielle Schäden verursachen. Im Auftrag des BAFU ist nun eine nationale Datenbank mit detailliert dokumentierten Ereignissen aufgebaut worden. Sie soll dazu beitragen, das Verständnis für komplexe Rutschprozesse und damit auch die Prognosen zu verbessern.

Text: Nicolas Gattlen

Heftige Unwetter lösten am 28. Juli 2014 unterhalb einer Strasse in Reute (AR) mehrere Hangmuren aus.
© Heinz Nigg

Der 83-jährige Viktor Niederer aus Reute (AR) hat schon viele Unwetter erlebt. Das Gewitter vom 28. Juli 2014 aber sei einzigartig gewesen. «Noch nie habe ich so viel Wasser vom Himmel auf die Erde prasseln gesehen.» Er verfolgte das 15-minütige Spektakel gemeinsam mit seiner Frau durch das Stubenfenster, während das Abendessen auf dem Tisch erkaltete. «Es schüttete so heftig, dass der nur wenige Hundert Meter entfernte Gegenhang nicht mehr zu erkennen war. Und die Strasse vor unserem Haus verwandelte sich innert Minuten in einen Bach.» Dann sah das Ehepaar, wie sich Teile des Bords unterhalb der Strasse lösten und mehrere Muren niedergingen. 50 bis 60 Meter weit sei die breiartige Masse zu Tal geflossen. «Das war schon beunruhigend», erinnert sich Viktor Niederer. Dennoch habe man Glück gehabt im Dorf. Das Gewitter hinterliess in Reute zwar einige nasse Keller, ein ramponiertes Strassenbord und verwüstetes Wiesland, doch grössere Schäden blieben aus.

Landesweite Schäden

In der Summe aber kam es in der Schweiz im regenreichen Sommer 2014 zu erheblichen Schäden: Die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) berechnete Gesamtschäden durch Hochwasser, Rutschungen, Murgänge und Sturzprozesse von rund 100 Millionen Franken. 80 Prozent davon fielen allein im Juli an. Und fast ein Zehntel ging auf das Konto von Hangmuren und spontanen Rutschungen. Dabei kam es auch zu Todesfällen: In Tiefencastel (GR) starb ein Mann infolge eines Zugunglücks, das eine Hangmure verursacht hatte. Und im Tessin verloren im November 2014 vier Personen in zwei Erdrutschen (Bombinasco und Davesco-Soragno) ihr Leben.

Wieso wurde die Gefahr in diesen Fällen nicht erkannt und deshalb frühzeitig gewarnt? «Hangmuren und spontane Rutschungen sind komplexe Prozesse, die wir nur ansatzweise verstehen», erklärt Bernard Loup, Fachexperte für Massenbewegungen beim BAFU. «Beurteilung und Einstufung der Gefährdung sind deshalb mit grossen Unsicherheiten behaftet.» Aufgrund der heutigen Kenntnisse können Fachleute anhand der Disposition die Gefahrengebiete ausscheiden, die bei entsprechenden Witterungsbedingungen zu Hangmuren neigen. «Welche Fläche unter welchen Bedingungen tatsächlich ins Rutschen gerät, kann aber heute noch nicht verlässlich vorhergesagt werden.»

Über 700 Fallstudien

Nun wolle man mithilfe der Statistik das Verständnis für Hangmuren und spontane Rutschprozesse und damit auch die Grundlage für Prognosen verbessern. Im Auftrag des BAFU hat die WSL über 700 Fallstudien aus den Jahren 1997 bis 2017 in einer nationalen Hangmuren-Datenbank zusammengeführt. Aus diesen Fällen will die Wissenschaft Referenz- und Vergleichswerte ableiten: Welches Gefälle weisen die betroffenen Hänge auf? In welchen Höhenlagen kam es zu Rutschungen? Welche Böden waren betroffen? Ab welcher Regenmenge gerieten die Hänge ins Rutschen?

WSL-Mitarbeiter Christian Rickli hat im Rahmen der «Ereignisanalyse Hochwasser 2005» bereits einige Auslösefaktoren für flachgründige Rutschungen ausgemacht. Im betreffenden Katastrophen-Sommer wurden im Ereigniskataster Naturgefahren über 5000 Rutschungen erfasst. Die WSL hat 183 davon genauer untersucht und in einem Bericht Bilanz gezogen: «Zur Hauptsache lagen die Rutschungen in einem Bereich zwischen 20 und 45 Grad Hangneigung», erklärt Studienleiter Rickli. «Unerwartet war, dass auch im Wald viele Rutschungen stattfanden. Diese ereigneten sich jedoch bei grösseren Neigungen und waren weniger häufig als im Freiland, was auf eine stabilisierende Wirkung des Waldes hinweist.»

Rutschung mit über 30 km/h

Entscheidend für die Auslösung sind die Niederschlagsmenge und ihre Verteilung. Zu Hanginstabilitäten kam es sowohl nach starken Regenfällen während einiger Stunden (Regensumme von 30 bis 50 mm) als auch nach anhaltenden Niederschlägen über mehrere Tage hinweg mit Summen über 200 Millimetern. Ausschlaggebend ist die Akkumulierung des Wassers im Untergrund über die Zeit, die unter anderem wesentlich vom Niederschlag, vom Abfluss im Boden und von der Porenbeschaffenheit abhängt. «Die Aufnahmefähigkeit eines Bodens ist beschränkt», erklärt Christian Rickli. «Dringt zu viel Wasser ein, muss ein Teil davon wieder raus. Es drängt gegen die Oberfläche und kann einen Hang regelrecht zum Bersten bringen.» In Österreich verwende man dafür den Begriff «Hangwasserexplosion».

Das oberflächlich abfliessende Gemisch aus Erde, Steinen und Wasser umfasst zwar – im Vergleich mit tiefgründigen Rutschungen, bei denen ein ganzer Hang abgleitet – nur ein beschränktes Volumen von durchschnittlich etwa 150 Kubikmetern. Der grosse Wasseranteil führt jedoch zu einer vergleichsweise hohen Prozessgeschwindigkeit von über 30 Stundenkilometern im Extremfall. Dadurch können Hangmuren eine zerstörerische Wirkung entfalten.

Einen grossen Einfluss haben auch andere Faktoren wie etwa Windstürme und Borkenkäfer: So ereigneten sich viele Rutschungen im Wald auf Waldschadenflächen. Alte Rutschablagerungen weisen auf eine mögliche Rutschgefahr hin. Bei 8 von 10 Rutschungen wurden Anzeichen früherer Rutschbewegungen festgestellt, insbesondere Ausbruchsnischen und Rutschbuckel.

Über 100 Kriterien

«Aus den 183 Fallstudien des Unwetters 2005 konnten wir wichtige Erkenntnisse gewinnen», bilanziert Christian Rickli. «Aber es blieben noch viele Fragen offen, auch zu geologischen Aspekten, die bei der Erfassung der Daten nur ansatzweise berücksichtigt wurden.» Die nationale Arbeitsgruppe Geologie und Naturgefahren liess daraufhin das Aufnahmeformular um weitere geologische Kriterien ergänzen. Das neue Formular wurde bereits von verschiedenen Ingenieurbüros getestet. Es kam auch 2014 bei der Erfassung der beschriebenen Hangmuren in Reute (AR) zum Einsatz, die der Geologe Andreas Blum im Auftrag des BAFU durchführte. Er bemass die Anriss- und die Rutschfläche, berechnete den Neigungswinkel und die Ablagerungsmächtigkeit, beschrieb das Locker- und Festgestein, bezeichnete die Bodenentwicklung, die Nutzung des Hangs sowie über 100 weitere Parameter.

Aber ist der Fall wirklich so kompliziert? Erst regnete es mehrere Tage lang, dann kam das kurze, heftige Gewitter, Wasser floss flächig über die Bordsteinkante und brachte einen Teil der künstlich aufgeschütteten Böschung ins Rutschen. «Auf den ersten Blick scheint der Fall simpel», erklärt Andreas Blum. «Wer sich aber umschaut, stellt fest, dass alle anderen Strassenböschungen in Reute stabil blieben, obschon viele ähnliche Charakteristiken aufweisen und denselben Niederschlagsmengen ausgesetzt waren.» Was also macht den entscheidenden Unterschied aus? Welche Faktoren führen schliesslich dazu, dass ein Hang abrutscht?

Erfassung mit Tablet-App

Um Antworten darauf zu finden, soll die Datenbank in den kommenden Jahren ausgebaut werden, insbesondere mit Ereignis-Dokumentationen aus denjenigen Regionen der Schweiz, die bis anhin noch kaum vertreten sind. Die WSL hat im Auftrag des BAFU eine Web-Applikation entwickelt, die es den Geologen und Ingenieuren erleichtert, die Daten vor Ort zu erfassen und in die nationale Datenbank einzuspeisen. Diese soll künftig verschiedenen Nutzern aus Forschung und Praxis zur Verfügung stehen, zum Beispiel als Grundlage für die Erstellung von Gefahrenkarten und Gefahrengutachten. «Mit der Datenbank verfügen die Fachleute des Bereichs Naturgefahren künftig über Referenzinformationen zur Disposition, Auslösung und Ablagerung sowie zu den Einwirkungen von Hangmuren und spontanen Rutschungen», erklärt Bernard Loup vom BAFU. «Durch ein besseres Verständnis dieser Prozesse sollten wir die Risiken mindern können.»

Auch menschliche Einflüsse

Bei einem Fünftel der untersuchten Hangmuren machten die Forscher – neben der Hangneigung und der Niederschlagsmenge – auch menschliche Einflüsse als entscheidende Faktoren aus: Einige Hangmuren ereigneten sich an Hängen mit defekten Drainagen oder mit künstlichen Wassereinträgen. 5 bis 20 Prozent der Rutschungen wurden massgeblich durch Strassen beeinflusst beziehungsweise durch eine ungünstige Neigung, ein steiles Bord oder den Abfluss von Strassenwasser.

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Letzte Änderung 06.03.2019

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