Der Stickstoffüberschuss setzt den Schweizer Wäldern zu

In den letzten Jahrzehnten haben die Stickstoffeinträge in die Wälder stark zugenommen. Heute sind fast 90 Prozent der Schweizer Wälder von übermässigen Stickstoffeinträgen betroffen – mit negativen Folgen für die Bäume. Immerhin: Die Ursachen für diese Verschmutzung sind bekannt und lassen sich angehen.

Text: Jean-Christophe Piot

Die meisten Spaziergängerinnen und Spaziergänger bemerken die Auswirkungen von übermässigen Stickstoffeinträgen im Wald wohl kaum. Fachpersonen dagegen bleiben die vielen Anzeichen nicht verborgen. Während zwar Brombeeren, Brennnesseln, Holunder und andere stickstoffliebende Pflanzen gut gedeihen, wird der Wald als Ganzes geschwächt. Denn Stickstoff in Form von Nitrat verdrängt im Boden für die Pflanzen wertvolle Mineralien wie Kalzium, Kalium oder Magnesium. «So versauern und verarmen die Böden, und das wirkt sich natürlich auf die Pflanzen und Bäume aus», sagt Sabine Augustin, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Sektion Waldschutz und Waldgesundheit des BAFU.

Auf diese Weise führt die Stickstoffbelastung zu einem Nährstoffungleichgewicht in der Ernährung der Bäume und letztlich dazu, dass die Bäume ab einer bestimmten Eintragsmenge weniger wachsen. Zudem werden die mit den Wurzeln verbundenen Mykorrhizapilze in ihrem Wachstum gestört. Dadurch werden die Bäume anfälliger gegenüber Witterungseinflüssen, Trockenheit, Parasiten und anderen Schädlingen.

«Die Versauerung des Bodens führt auch dazu, dass die Anzahl der Regenwürmer abnimmt und Arten, die tief graben, sogar ganz verschwinden. Das hat fatale Auswirkungen auf viele Prozesse, etwa die Zersetzung von Laub und Pflanzenresten, die Durchlüftung des Bodens oder das Wurzelwachstum.» Letztlich führen diese durch die hohen Stickstoffeinträge verursachten Veränderungen zu einer verringerten Widerstandsfähigkeit und vielerorts können sich Wachstumsstörungen entwickeln.

Die Dosis macht das Gift

Nun ist Stickstoff für das Wachstum von Pflanzen und auch für alle anderen Lebewesen unerlässlich. In die Wälder gelangt Stickstoff in Form von Nitrat oder Ammonium entweder in Niederschlag – das nennen Fachleute nasse Deposition – oder bei trockener Deposition als Gas oder Feinstaubpartikel. Die Bäume nehmen den Stickstoff einerseits über die Wurzeln und andererseits direkt aus der Luft über die Blätter und Nadeln auf.

Laut Sabine Braun, Forscherin am Institut für Angewandte Pflanzenbiologie, macht die Dosis – oder in diesem Fall der Überdüngungseffekt – das Gift. «Ab einer bestimmten Eintragsrate bringt ein Überschuss an reaktivem Stickstoff den Nährstoffhaushalt der Bäume und des Bodens aus dem Gleichgewicht», erklärt sie. «Am stärksten gestört werden die Netze der Mykorrhizapilze, die für die Bäume unverzichtbar sind, da sie ihnen bei der Aufnahme von Wasser und Nährstoffen helfen.»

Heute gelangen in der Schweiz pro Jahr durchschnittlich 19,4 Kilogramm Stickstoff in eine Hektare Wald – deutlich mehr als die zulässigen kritischen Belastungswerte, die von der UN-Wirtschaftskommission für Europa (UNECE) erarbeitet wurden. Für Nadelwälder liegen diese «Critical Loads» zwischen 3 und 15, für Laubwälder zwischen 10 und 15 Kilogramm pro Hektare.

Stickstoffeinträge: Eine Bedrohung für die Wälder

Ursache Mensch

Der Hauptteil der Stickstoffbelastung stammt von menschlichen Aktivitäten – noch in vorindustrieller Zeit betrug der Eintrag aus natürlichen Quellen zwei bis drei Kilogramm pro Hektare und Jahr. «Übermässige Stickstoffeinträge gibt es heute in ganz Europa», stellt Sabine Braun fest. «In der Schweiz sind die Emissionen pro Hektare landwirtschaftlicher Nutzfläche die dritthöchsten, nach den Niederlanden und Belgien.» Dabei gibt es deutliche regionale Unterschiede: Im Mittelland, wo es viele Schweine- und Rinderzuchten gibt, kann der Stickstoffeintrag in Wäldern bis zu 60 Kilogramm pro Hektare hoch sein, was dem Zwanzig- bis Dreissigfachen der natürlichen Menge entspricht. Die sehr hohen Einträge im Tessin stammen dagegen aus der intensiven industriellen und landwirtschaftlichen Tätigkeit in Norditalien.Dass der Mensch diesen Stickstoffüberschuss verursacht, ist heute unbestritten. Und es sei kein Zufall, dass die Wälder in ländlichen Gebieten am stärksten gefährdet sind, sagt Biologin Sabine Braun. «Emissionen in die Luft erfolgen vor allem auf zwei Arten: ein Drittel als Stickoxid, das hauptsächlich aus der Industrie und dem Strassenverkehr stammt, zwei Drittel als Ammoniak, das durch landwirtschaftliche Tätigkeiten freigesetzt wird.»

Schädlich ist auch der nächste Schritt im Kreislauf des in den Wald eingetragenen Stickstoffs. Ein Teil davon entweicht nämlich durch Nitratauswaschung. So gerät zusätzlicher Stickstoff in die Gewässer. In der Schweiz werden die Stickstoffflüsse in Gewässern seit dem Jahr 2000 alle zehn Jahre berechnet, mit einem Modell namens MODIFFUS. Mithilfe der neuesten Daten daraus liess sich der Gesamtanteil an Stickstoff beziffern, der aus der Landwirtschaft in die Gewässer gelangt – direkt oder durch Nitratauswaschung in den Wäldern. «Im Jahr 2020 gelangten zusammengenommen 70000 Tonnen Stickstoff in die Schweizer Gewässer», sagt Georges Chassot, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim BAFU. Davon stammen 40 Prozent von Landwirtschaftsflächen. Es sind aber 46 Prozent, wenn man auch den Anteil berücksichtigt, der einen Umweg über die Wälder macht, also als Ammoniak aus der Landwirtschaft in die Wälder gelangt und dann als Nitrat ausgewaschen wird.

Verbesserungen laufen

Insgesamt werden zwei Drittel der atmosphärischen Stickstoffeinträge in der Landwirtschaft verursacht und ein Drittel in den Verbrennungsprozessen von Verkehr, Heizung und Industrie. In der Schweiz haben die Massnahmen zur Reduktion der Stickoxidemissionen deutliche Verbesserungen erzielt. So werden die Grenzwerte etwa für Stickstoffdioxid nur noch vereinzelt in den verkehrsreichsten Gebieten überschritten. Dies dank strengerer Standards für die Industrie und die Automobilbranche, eine prominentes Beispiel war die Einführung der Katalysatoren.

Dass ausserdem Diesel- und Benzinfahrzeuge allmählich ersetzt und der Fuss- und Veloverkehr immer beliebter werden, dürfte ebenfalls dazu beitragen, diese Verschmutzung weiter zu verringern. Dagegen gehen die Ammoniakemissionen aus der Landwirtschaft seit Anfang der 2000er-Jahre nur langsam zurück – und liegen noch weit über dem Ziel, das im Luftreinhaltekonzept des Bundes festgelegt wurde.

Da nun die Landwirtschaft die meisten Stickstoffemissionen verursacht, liegen hier auch die wirkungsvollsten Hebel, um sie zu verringern. Insbesondere will man bei der Gülleausbringung ansetzen. Wie viel Ammoniak dabei in die Luft gelangt, hängt von der Art und den physikalisch-chemischen Eigenschaften der Gülle, dem Zeitpunkt der Ausbringung, den klimatischen Bedingungen und dem Boden ab. Was man bereits weiss: Indem Güllelager abgedeckt werden und die Gülle nach dem Ausbringen rasch in den Boden eingearbeitet wird, lassen sich Ammoniakemissionen verringern.

Darum werden die Vorschriften angepasst: Bis 2030 müssen Güllelager abgedichtet sein, sodass weniger Ammoniak austritt. Ausserdem müssen Landwirtinnen und Landwirte die Gülle ab 2024 mit einem emissionsarmen System wie einem Schleppschlauch ausbringen, der weniger Ammoniak in die Luft abgibt als herkömmliche Ausbringsysteme. Die eigentliche Herausforderung betrifft laut Sabine Augustin aber die gesamte Gesellschaft: «Die durchschnittliche Anzahl Tiere pro Hektare ist schlicht zu hoch. Wir müssen eine nachhaltige Landwirtschaft fördern.» Auch die Gesundheit der Wälder hängt davon ab. 

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Letzte Änderung 29.11.2023

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