Wem soll geholfen werden?

Der Klimawandel bedeutet für die Menschheit eine enorme Herausforderung. Damit stellen sich in der Schweiz noch nie da gewesene Fragen. Etwa: Wer hat künftig Anrecht auf wie viel Wasser? Oder: Welche Wasserlebewesen retten wir, welche nicht?

Text: Christian Schmidt

Stark gefährdet: Äschen auf einem Laichgrund in der Aare, das helle Weibchen im Vordergrund.
© Bild: Michel Roggo

Mit über tausend Seen gilt die Schweiz als das Wasserschloss Europas, doch auch bei uns ist in Zeiten des Klimawandels genügend Wasser nicht mehr immer selbstverständlich. Anfang August 2018 mussten Helikopter mehrere Millionen Liter Wasser auf Alpen im ganzen Land fliegen. Grund: Das Wasser für die Kühe wurde knapp. 2019 hat Enges (NE) als erste Gemeinde aufgrund der zunehmenden Wasserknappheit ein Bauverbot für Neubauten erlassen. Und im selben Sommer fiel so wenig Regen, dass zahlreiche Flüsse zu Rinnsalen wurden. Gleichzeitig erreichten die Wassertemperaturen bis zu 27 Grad, was im Rhein zu einem grossen Fischsterben führte. Das sind Phänomene, die sich laut dem Projekt Hydro-CH2018 weiter verschärfen werden. 

Wie mit dieser Situation umgehen? Die BAFU-Experten Thomas Kuske und Bänz Lundsgaard-Hansen sowie Dominic Roser, Klimaethiker an der Universität Freiburg, suchen nach Antworten auf beispielhafte Fragen. 

Zielkonflikte in den Bergen

Wenn keine Klimaschutzmassnahmen getroffen werden, könnten die Sommerniederschläge als Folge des Klimawandels in den nächsten Jahrzehnten um bis zu 20 Prozent abnehmen. Dies wird in den Tourismusregionen der Alpen zu Konflikten führen. Auf der einen Seite steht der Bedarf der Alpwirtschaft eine Kuh trinkt pro Tag rund 100 Liter Wasser, auf der anderen Seite der Tourismus, der nach immer mehr Wasser verlangt: Hotels mit Wellness- und Spa-Angeboten dringen immer weiter in die Höhe vor, etwa auf der Riffelalp (VS) bis auf 2200 Meter über Meer. Die Konkurrenz um das Lebenselixier Wasser ist damit absehbar.

Thomas Kuske von der Sektion Landschaftsmanagement beim BAFU sieht am Horizont entsprechende Konflikte auftauchen. Komme es zu einem Streit bezüglich Wasserverteilung, werde man unter anderem abwägen müssen, wer mit dem Anspruch auf Wasser eher dem «öffentlichen Interesse» diene. Der Wellnessdirektor kurble mit seinem Geschäft zwar die regionale Wirtschaft stärker an als der Bergbauer, doch er verfolge ein privates Interesse. «Die Arbeit des Bergbauern dagegen dient zu einem grossen Teil der Öffentlichkeit, wenn die Nutzung an den Standort angepasst ist.» Mit seiner Arbeit verhindere er die Verbuschung der Alpen und erhalte damit die Kulturlandschaft. Auf dieser Idee beruhe ja auch das System der ökologischen Direktzahlungen an die Landwirte. Die Kulturlandschaft mit ihren Wiesen, Weiden, Bächen und Flüssen ist zudem Lebensraum für Tiere und Pflanzen, sie wirkt sich positiv auf die Gesundheit der Menschen aus und fördert auch die Identifikation und Verbundenheit mit der als vertraut empfundenen Umgebung. 

Hier zu einem Entscheid zu kommen, erfordere Fingerspitzengefühl, sagt Thomas Kuske, zumal das öffentliche Interesse nicht immer ein stichhaltiges Argument sei. «Der Begriff ist rechtlich unscharf.» Dies habe zur Folge, dass Konflikte oft «auf einer technischen Ebene» abgehandelt würden, weil «das Verständnis für die übergeordneten Dimensionen, der Blick aufs Ganze, fehlt.» Mit anderen Worten: Argumente mit einem ideellen Hintergrund unterliegen allzu oft.

Hinter dem Wasserkonflikt versteckt sich eine Diskussion von weit grösserer Dimension: Wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass der Klimawandel im Wasserschloss Schweiz Konflikte zu provozieren droht? Dominic Roser, Dozent an der Universität Freiburg und spezialisiert auf die ethischen Aspekte des Klimawandels, erklärt: «Wir Menschen haben keine Erfahrung mit Ereignissen, bei denen Ursache und Wirkung zeitlich und geografisch so weit auseinanderliegen.» Der Klimawandel gleiche bezüglich Dringlichkeit und Bedeutung zwar der Corona-Pandemie, «aber weil die Veränderungen vergleichsweise in Zeitlupe ablaufen, fehlt uns dafür das Sensorium». Entsprechend schwierig seien die Anliegen des Klimaschutzes durchzusetzen. 

Äsche unter Druck

Der Klimawandel tangiert das Thema Wasser nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ. So stellen die steigenden Wassertemperaturen für verschiedene Wassertiere eine existenzielle Bedrohung dar, etwa für die Äsche, einen typischen Flussfisch mit perlmuttartigem Schimmer auf den silbrigen Körperflanken. Da der Sauerstoffgehalt des Wassers mit zunehmenden Temperaturen sinkt, geraten die Tiere zuerst unter Stress und stellen das Wachstum ein, ebenso geht die Qualität des Laichs zurück. Steigt die Wassertemperatur noch mehr, verenden sie. Seit Anfang 2020 gilt die Äsche in der Schweiz als «stark gefährdet». 

Aufgrund des Klimawandels gewinnen Massnahmen wie die Förderung einer Beschattung der Gewässer an Bedeutung, da sie die Wassertemperatur senken können. Eine andere Möglichkeit: die Tiere bei kritischen Temperaturen ausfischen und in kühleren Gewässerbereichen wieder aussetzen.

Das sind aufwendige Massnahmen, die nur für bei der Bevölkerung bekannte und geschätzte Tiere in Betracht kommen. Daraus ergibt sich die Frage: Was ist mit all den anderen Wasserlebewesen, die wie jedes Tier im Ökosystem ebenfalls ihren Platz und ihre Bedeutung haben? 

Diskriminierung in der Tierwelt

Bänz Lundsgaard-Hansen, bei der Sektion Wasserqualität des BAFU unter anderem für das Thema Fische zuständig, widerspricht: «Die Gewässerschutz-Gesetzgebung hat die Aufgabe, einen naturnahen Zustand der Gewässer zu erhalten oder wiederherzustellen, damit alle natürlichen Prozesse ablaufen können. Gelingt das, schützen wir alle Wasserlebewesen gleichwertig.» Indem der Bund sich für die Äsche engagiere, schütze er eine sogenannte Flaggschiff-Art, also eine in der Öffentlichkeit bekannte Art, deren kritische Situation Emotionen auslöse. Diese Gefühle seien wiederum die Basis, um Verständnis für die Dringlichkeit des Naturschutzes zu erzeugen. «Indem wir die Äsche schützen, schützen wir gleichzeitig alle anderen Arten, die denselben Lebensraum nutzen.»

Allerdings, so Bänz Lundsgaard-Hansen, seien manche Massnahmen in der Tat eine Symptombekämpfung. «Wenn die Temperaturen weiter steigen, ist die Zukunft der Äsche in gewissen Gewässern der Schweiz unsicher. Auch mit allen Massnahmen können wir nicht garantieren, dass der Fisch in 50 oder 100 Jahren noch da sein wird.» 

Und was antwortet Ethiker Dominic Roser auf die Frage, ob wir in Zeiten des Klimawandels nicht bestimmte Arten vorziehen? Seiner Meinung nach gibt es tatsächlich «eine Diskriminierung innerhalb der Tierwelt». Zum einen gelte unsere Rücksicht primär denjenigen Lebewesen, die nach menschlicher Einschätzung Schmerzen empfinden. Das möge gerechtfertigt sein. Aber zum anderen gelte sie denen, die einen unmittelbaren ökonomischen Wert haben, uns persönlich berühren oder für ein Land typisch sind. «Da werden wir richtig emotional und auch nationalistisch.» Aus ethischer Sicht sei das, so Roser, «ziemlich problematisch».

Gefahr des Identitätsverlusts

Und noch zwei Fragen an Dominic Roser: Wie wirken sich die klimabedingten Veränderungen auf die menschliche Psyche aus? Die ausgetrockneten Flussbetten. Auf dem Rücken treibende Fische. Kühe, die anstatt auf grünen Weiden auf rissig-brauner Erde stehen. Graue Schutthügel anstatt weisser Gletscher. Wie wirkt es sich auf unser kollektives Gedächtnis aus, wenn die Schweiz nicht mehr so aussieht, wie sie einst ausgesehen hat? Tatsächlich sei das ein «wunder Punkt», sagt Roser. «Die Natur, wie wir sie als Kinder kannten, ist nicht mehr da. Das birgt die Gefahr eines Identitätsverlusts.» Solche immateriellen Klimaschäden dürften nicht unterschätzt werden, aber es seien «natürlich nicht die schwersten aller Schäden». Eine verlorene Identität lasse sich mit einer neuen Identität ersetzen und manchmal sei das sogar gut so. «Ein Leben, das in einer klimabedingten Hungersnot verloren geht, kann hingegen nicht ersetzt werden.»

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Letzte Änderung 25.11.2020

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