Geschiebehaushalt: Wertvolle Fracht aus Sand und Stein

Wo sich Flüssen und Bächen Hindernisse in den Weg stellen, fehlt ihnen im Unterlauf Kies und Sand auf dem Gewässergrund. Dadurch geht unverzichtbarer Lebensraum verloren. Zudem erhöht sich die Gefahr, dass Flussbett und Ufer erodieren. Das Gewässerschutzgesetz verlangt eine Reaktivierung des Geschiebehaushalts. Doch die Sanierung der Geschiebesammler verzögert sich.

Text: Kaspar Meuli

Von «apokalyptischen Zuständen» war in der Lokalpresse die Rede. Tatsächlich konnte sich im überschwemmten Walliser Lötschental kaum noch jemand daran erinnern, dass die Lonza je derart viel Wasser führte wie am 10. Oktober 2011. Auch an ihrem Unterlauf – kurz vor ihrer Mündung in die Rhone – wird man sich noch lange an diesen trüben Herbsttag erinnern. Nach intensiven Regenfällen staute sich im Flussbett der Lonza Geschiebe auf, wodurch das Wasser immer schneller anstieg und die beiden Walliser Dörfer Gampel und Steg auf beiden Seiten des Flusses zu überfluten drohte. Eigentlich wähnte man sich hier in Sicherheit, denn nachdem ein Unwetter im Jahr 2000 grosse Schäden angerichtet hatte, sorgten die Gemeinden vor. Mit dem Geschiebesammler Schlüchu wurde ein mächtiges Betonbauwerk erstellt, das mitgeschwemmtes Geröll künftig zurückhalten und dadurch Überschwemmungen im Siedlungsgebiet verhindern sollte.

Ungenügender Schutz

Doch als es im Oktober 2011 zum ersten Mal ernst galt, erwies sich der Geschiebesammler als allzu durchlässig. Unterhalb des Bauwerks füllte sich das Flussbett rasch mit Geschiebe. Ein Ausbrechen der Wassermassen liess sich nur verhindern, weil es der Feuerwehr in Rekordzeit gelang, einen provisorischen Schutzdamm zu errichten. Trotzdem richtete die Überschwemmung am Kraftwerk Lötschen einen Millionenschaden an.

Inzwischen wurde der Geschiebesammler nachgerüstet und optimiert. «Wir waren gezwungen zu reagieren und Fehler zu beheben», sagt Jules Seiler von der Geoplan AG, einem auf Naturgefahren spezialisierten Inge­nieur­büro in Steg. «Der Sammler hat beim Hochwasser 2011 die erwartete Rückhalteleistung nicht erbracht.» Dass der Schlüchu das Geschiebe nur teilweise zurückhielt, war nicht etwa technisches Versagen. Geschiebesammler werden heutzutage durchlässig gebaut. Gelangt nämlich zu wenig Geschiebe in den Unterlauf, erhöht sich die Gefahr einer Erosion des Flussbetts und einer Unterspülung der Ufer. Dies kann schlimmstenfalls dazu führen, dass Dämme oder Brückenpfeiler einstürzen. Dagegen sorgt ein genügend grosser Geschiebeeintrag für eine lockere Kiessohle, die vielen Wasserlebewesen als unverzichtbarer Lebensraum dient.

Aus technischer Sicht sind gut funktionierende Geschiebesammler eine Herausforderung, wie Manuel Nitsche von der Sektion Sanierung Wasserkraft des BAFU erklärt: «Es ist nicht einfach, einen Sammler so zu konzipieren, dass er bei grossen Hochwassern den notwendigen Rückhalt garantiert und das Geschiebe bei kleineren Ereignissen dennoch passieren lässt.» Wie gut ein Sammler funktioniere, hänge auch davon ab, wie grob oder fein das Geschiebe sei.

So war beispielsweise der Schlüchu vor dem Umbau schlicht nicht auf den Fall ausgelegt, dass die hoch gehende Lonza vor allem Feinmaterial mit sich führt. «Bei einem Hochwasserereignis lässt sich nicht vorhersagen, aus welchen Bestandteilen sich das Geschiebe zusammensetzt», weiss Jules Seiler von Geoplan. Beim Starkregenereignis im Oktober 2011 mobilisierte die Lonza nicht nur Geschiebematerial aus dem Bachgerinne, sondern auch aus Seitenhängen, die gewöhnlich nicht von Hochwassern betroffen sind. Deshalb führte der Bach auch aussergewöhnlich viele kleine Steine, Sand und Feinsedimente mit sich.

Gefährdeter Lebensraum

Geschiebe befindet sich meist unsichtbar auf der Gewässersohle. Wir nehmen es erst wahr, wenn es sich nach einer Überschwemmung auf Strassen, Wegen und an Häusern ablagert. Während das Geschiebe für uns Menschen zur Gefahr werden kann, spielt es für das Leben im Wasser eine zentrale Rolle. «Es bildet den natürlichen Lebensraum aller Tiere, die an der Sohle eines Gewässers leben», sagt Manuel Nitsche vom BAFU. «Verschiedene Fischarten, Krebse, Schnecken und Insektenlarven nutzen das Geschiebe als Laichplatz und als Lebensraum.»

Doch der natürliche Geschiebehaushalt – und damit das Ökosystem vieler Bäche und Flüsse – wird stark vom Menschen beeinflusst. Hindernisse wie Flussverbauungen, Geschiebesammler und Wasserkraftwerke, aber auch Kieswerke halten das ökologisch wertvolle Material zurück und stören so die natürliche Dynamik – mit schwerwiegen- den Folgen für Flora und Fauna. Denn Gewässerbereiche mit frischen Kiesablagerungen sind wichtig für viele strömungsliebende Fischarten wie Forellen, Äschen und Groppen, die bei der Fortpflanzung auf eine lockere Gewässersohle angewiesen sind. Manche Vogelarten wiederum – wie beispielsweise der Flussregenpfeifer – benötigen Kiesflächen und offene Flachwasserzonen zum Brüten und als Lebensraum. Und auch verschiedene Amphibien und Reptilien haben sich auf die Besiedlung von Kiesbänken und weiteren Pionierstandorten spezialisiert.

Das 2011 revidierte Gewässerschutzgesetz, das unsere Gewässer wieder natürlicher gestalten will, verlangt deshalb auch eine Reaktivierung des Geschiebehaushalts. Wie die Erhebungen der Kantone im Rahmen der strategischen Planungen zur Umsetzung des Gewässerschutzgesetzes zeigen, müssen aus diesem Grund in der ganzen Schweiz rund 140 Wasserkraftanlagen sowie 360 Geschiebesammler und industrielle Kiesentnahmestellen saniert werden. Diese Arbeiten sollten eigentlich bis 2030 abgeschlossen sein.

Sanierungen verzögern sich

«Bei Wasserkraftanlagen sind viele Sanierungsmassnahmen in Planung oder werden bereits realisiert», bilanziert Lucie Lundsgaard-Hansen von der BAFU-Sektion Sanierung Wasserkraft. Sie stützt diese Aussage auf eine Auswertung erster Zwischenberichte der Kantone zur Umsetzung der vom Gewässerschutzgesetz geforderten Massnahmen. Die Umsetzung der Sanierungsmassnahmen bei Geschiebesammlern ist weniger weit fortgeschritten. Hier besteht noch ein grosser Handlungsbedarf. Die Gründe für diesen Rückstand sind vielfältig. Möglicherweise machen die für die Umsetzung des Gewässerschutzgesetzes zuständigen Kantone vorab Druck bei der Sanierung der Wasserkraftwerke. Diese wird – im Gegensatz zur Sanierung von Geschiebesammlern – vom Bund vollständig entschädigt. Zudem setzen die Wasserbauverantwortlichen ihre Prioritäten heutzutage wohl noch auf andere Aufgaben – wie etwa den Unterhalt und die Instandstellung von Anlagen sowie die Behebung von Schutzdefiziten. Überdies sei die Bedeutung eines intakten Geschiebehaushalts für die Natur sowie für die Stabilität der Ufer und der Gewässersohle vielen Leuten noch zu wenig bewusst, vermutet Lucie Lundsgaard-Hansen.

Ebenfalls zu wenig bekannt ist wohl, dass Bund und Kantone die Optimierung von Geschiebesammlern finanziell unterstützen – sei es im Rahmen von Hochwasserschutzprojekten oder von Gewässerrevitalisierungen. Mit sanierten Geschiebesammlern können Gemeinden ausserdem Unterhaltskosten sparen, die ansonsten beim kostspieligen Ausbaggern der gefüllten Sammler und beim Abtransport des Geschiebes anfallen.

Zurück an die Lonza und zum optimierten Geschiebesammler Schlüchu, wo aus dem Misserfolg beim Hochwasser vom Oktober 2011 die Lehren gezogen wurden. Je nach Hochwassser und nach Beschaffenheit seiner Fracht lässt sich das aufgerüstete Auslassbauwerk inzwischen unterschiedlich stark schliessen – wenn es sein muss, auch ganz. «Anstelle des bestehenden Durchlasses, der das feine Geschiebematerial nicht zurückhalten konnte, haben wir einen Tiefschütz eingebaut, der sich hydraulisch bewegen lässt», erklärt Jules Seiler, der Spezialist für Geomorphologie. Führt die Lonza nicht übermässig Wasser, so bleibt der Auslass des Sammlers so weit offen, dass Kies und Feinmaterial ungehindert passieren können. Bei einem Hochwasser hingegen wird die Stahlplatte so weit gesenkt, dass es zu einem Aufstau des Geschiebes kommt. Ist der Auslass ganz geschlossen, werden auch Sand und Feinsedimente zurückgehalten.

Für Natur und Hochwasserschutz

Wie das Beispiel von Gampel und Steg zeigt, gibt es bei der Geschiebeproblematik unterschiedliche Betrachtungsweisen: Aus Sicht des Hochwasserschutzes sollte ein hoch gehendes Gewässer nicht zu viel Geschiebe mit sich führen. Andererseits braucht es einen genügenden Eintrag nicht nur aus ökologischer Perspektive, sondern auch, um die Gewässersohle und die Ufer stabil zu halten. «Sammler sollten deshalb erst bei grösseren Hochwassern in Funktion treten», erklärt BAFU-Spezialistin Lucie Lundsgaard-Hansen, «nämlich bei Ereignissen, die stromabwärts Siedlungen und Infrastrukturanlagen gefährden.» Genau das ist beim aufgerüsteten Schlüchu nun möglich. Eine Win-win-Situation also für die Natur und für den Hochwasserschutz.

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Letzte Änderung 03.06.2020

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