Solidarische Landwirtschaft: Weitblick über den Tellerrand hinaus

Was in der Romandie auf eine längere Tradition zurückblickt, hat mittlerweile auch in der Deutschschweiz Wurzeln geschlagen: Bauernbetriebe, die im direkten Austausch mit ihrer Kundschaft stehen und diese bei der Produktion ihrer Erzeugnisse einbeziehen. Zu Besuch bei der solidarischen Landwirtschaftsinitiative radiesli in Worb.

Text: Lucienne Rey

Arbeit und Vergnügen auf dem Radieslihof: Beim alljährlichen Jätkonzert begleiten ein Cellist und ein Akkordeonist Radiesli-Mitglieder beim Jäten auf dem Zwiebelfeld.
© Radiesli

Gleich zu Beginn blamiert sich die Journalistin. Was sie als Mais im Wachstumsrückstand identifiziert, sind in Wirklichkeit Schwarzwurzeln. Das Laub der Randen wiederum verwechselt sie mit Krautstielen. Auf den relativ schmalen, dafür langen Äckern wachsen auch Buchweizen, schwarze Bohnen und Kartoffeln. Im Westen werden die Parzellen des besuchten Bauernbetriebs von einem Bach begrenzt, der dem Fuss des Dentenbergs folgt. Dessen Flanke gliedern Felder, Wiesen und kleine Wälder, man wähnt sich weit weg von jeder Stadt. Ganz anders sieht es in östlicher Richtung aus. Dort, im Worbboden, reihen sich funktionale Gewerbebauten aneinander. Dass der Radieslihof im Einzugsgebiet Berns liegt und entsprechend zahlreiche Interessierte ansprechen kann, hält Marion Salzmann für einen Vorteil. Die Gemüsegärtnerin ist Mitglied des Vereins radiesli und der damit verknüpften radiesli GmbH, die der Bevölkerung die Landwirtschaft näherbringen will.

Solidarität mit der Natur und mit den Menschen

Das radiesli ist eine der ältesten solidarischen Landwirtschaftsinitiativen in der Deutschschweiz, 2021 feierte es sein zehnjähriges Jubiläum. In der französischsprachigen Schweiz kennt man den solidarischen Ansatz schon länger: So wurde die vertragslandwirtschaftliche Kooperative «Les jardins de Coca­gne» in Cartigny (GE) 1978 gegründet, als erster Betrieb dieser Art in Europa. Die Idee dahinter: Landwirtinnen und Landwirte setzen sich gemeinsam mit ihrer Kundschaft für die nachhaltige Produktion regionaler Lebensmittel ein. Dabei verpflichten sich beide Seiten vertraglich, bestimmte Leistungen zu erbringen. Die Erzeugnisse werden im Einklang mit den Gegebenheiten vor Ort und mit Methoden des biologischen Landbaus produziert. So werden keine synthetischen Dünger und chemischen Spritzmittel verwendet. Diesen Grundsätzen folgt auch das radiesli, das ausserdem auf beheizte Treibhäuser verzichtet.

In seinen ersten Jahren pflanzte der radiesli-Verein auf einem ehemaligen Erdbeerfeld erste Gemüsekulturen an. Mit den Jahren kamen weitere Parzellen – und weitere Vereinsmitglieder – hinzu, bis die radiesli GmbH 2021 den ganzen Hof erwerben konnte. Heute werden auf seinen zehn Hektaren Acker- und Weideland rund 60 Gemüsearten produziert; vom Asia-Salat über Knack­erbsen bis zu Zwiebeln, darunter etliche Pro-Specie-Rara-Sorten. Getreide und Hülsenfrüchte werden ebenfalls angebaut, ausserdem Hackfrüchte wie Kartoffeln, Randen oder Mais. Auch neun Mutterkühe leben auf dem Radieslihof. Mit ihrem Mist unterstützen sie den geschlossenen Nährstoffkreislauf und fördern die Bodenfruchtbarkeit. Sie fressen ausschliesslich Raufutter, das auf dem Hof selbst produziert wird. Die Jungtiere werden geschlachtet, sodass vom Radieslihof auch Fleisch bezogen werden kann. Das radiesli vertreibt zudem Kaffee, der in Mexiko fair angebaut und umweltschonend nach Europa transportiert wird. Denn der Verein setzt sich für eine solidarische Landwirtschaft ein und pflegt entsprechende nationale und mit dem teikei-Kaffee auch internationale Kontakte. 

Ackern für die eigene Mahlzeit

Die Vereinsmitglieder bestimmen mit, was in welcher Menge angebaut wird. Einmal jährlich ermittelt eine Umfrage ihren Bedarf. Was an Anpassungen möglich ist, wird zusammen mit der Hofgruppe entschieden, die neben Marion Salzmann vier weitere landwirtschaftlich ausgebildete Frauen und Männer umfasst. Die Hofgruppe wiederum bildet mit zwei Delegierten der Vereinsmitglieder die radiesli GmbH, die den Hof erworben hat und als offizielle Arbeitgeberin der Hofgruppenmitglieder fungiert.

Finanziell getragen wird der Radieslihof durch die derzeit fast 400 Vereinsmitglieder. Diese erwerben bei ihrem Eintritt mindestens zwei Anteilscheine im Wert von 250 Franken. Je nachdem, welche Produkte ein Mitglied erhalten möchte, entrichtet es jährlich einen entsprechenden Betriebsbeitrag. Ausserdem verpflichtet sich die Person, pro Jahr im Minimum an zwei Halbtagen selbst anzupacken, um Unkraut zu jäten, Gemüse zu rüsten oder andere Arbeiten zu verrichten.

Im Gegenzug erhalten die Mitglieder Ernteanteile nach ihrer Wahl: Jede Woche eine Tasche mit Saisongemüse oder während des Winters einmal im Monat Lagergemüse wie Rüebli, Randen, Pastinaken oder Kartoffeln, oder auch grössere Mengen an Mehl, Haferflocken und dergleichen. Ausserdem sind Pakete mit Rindfleisch – inklusive der Innereien – erhältlich. Andere Ernteanteile umfassen Eier oder den bereits erwähnten teikei-Kaffee. Die Mitglieder holen ihre Ernteanteile in verschiedenen Depots in Bern und in den umliegenden Gemeinden ab.

Obschon die Mitglieder ihre Ernteanteile auswählen, können sie die Ware nicht wie in einem Laden aussuchen. In ihren Taschen finden sie, was gerade geerntet werden kann. Darunter befindet sich auch kleines und krummes oder sonst von der Norm abweichendes Gemüse. Denn anders als im herkömmlichen Handel, wird dieses nicht aussortiert.

 

Blumen im Einkaufswagen, Hühner im Bauwagen

Zwischen den Ökonomiegebäuden stehen gelb lackierte ausrangierte Einkaufswagen, die mit Löwenmäulchen, Tagetes, Schmuckkörbchen und anderen Blumen bepflanzt sind. «Wir lieben Blumen, ausserdem sind sie wichtig für unseren Hof», erklärt Marion Salzmann. «Beim Kabis etwa ziehen sie Nutzinsekten an,  die Schädlinge wie Kohlweisslinge und weisse Fliegen fressen. Dadurch können wir auf Netze verzichten.»

Auffällig ist auch der eingezäunte leuchtend orange Bauwagen: Das Zuhause der Hühnerschar, die sich aus der hochsommerlichen Hitze in seinen Schatten geflüchtet hat. «Nur fünfzig Hühner zu halten, rechnet sich eigentlich nicht», so Marion Salzmann. Denn das Federvieh braucht für eine gewisse Legeleistung proteinreiches Futter, das der Hof zukaufen muss – auch wenn den Tieren Rüstabfälle und Kleie aus dem eigenen Getreide verfüttert werden. Wer ein Abonnement für Eier abschliesst, verpflichtet sich, auch ein Suppenhuhn und ein Masthähnchen abzunehmen. Denn Hühner, die keine Eier mehr legen, und männliche Tiere gilt es ebenso zu verwerten wie die Eier.

Dass sich die Kundschaft intensiv mit der Herkunft der Nahrungsmittel auseinandersetzt, sei begrüssenswert, sagt Daniel Arn von der Sektion Landschaftspolitik des BAFU. «Sind die Menschen für den Wert der Nahrung sensibilisiert, fällt auch weniger Food Waste an», hält er fest. Aus sozialer Sicht überzeugt ihn der Ansatz ebenfalls. «Das mit dem Klimawandel stark steigende Risiko liegt so nicht mehr allein bei den Landwirten. Wenn ein Teil der Ernte ausfällt, können diese auf die Solidarität der Vereinsmitglieder zählen. Zudem kann ein solches Projekt die Gestaltung der künftigen Schweizer Landwirtschaft inspirieren.» In der Deutschschweiz gibt es derzeit 15 solidarische Initiativen, die im Verband regionale Vertragslandwirtschaft zusammengeschlossen sind; das Pendant in der Romandie, die Fédération Romande d’Agriculture Contractuelle de Proximité (FRACP), umfasst 32 Betriebe.

Wo das Herz des radiesli schlägt

Im kühlen Arbeitsraum – einem ehemaligen Kuhstall – schlägt das Herz des radiesli. Hier stehen lange Tische, an denen die Vereinsmitglieder Gemüse rüsten oder Ernteanteile verpacken. Auch Setzlinge werden pikiert, das heisst, zu dicht wachsende Pflänzchen in grösserem Abstand umgepflanzt – pro Jahr bis zu 20 000 Stück. Denn der Radieslihof zieht seine Setzlinge selbst, «aufwendige Feinarbeit, die nur dank der zahlreichen Helferinnen und Helfer möglich ist», bestätigt Marion Salzmann. Die vielen Arbeitshandschuhe, die draussen zum Trocknen aufgehängt sind, und die zahllosen Kräuel, Blatt- und Pendelhacken bezeugen, dass das radiesli auf Handarbeit setzt. Im grossen Arbeitsraum befindet sich auch die Küche, wo das Mittag­essen für diejenigen zubereitet wird, die den ganzen Tag auf dem Hof arbeiten. An den Wänden hängen der Saisonkalender mit Angaben zur Erntezeit der verschiedenen Kulturen, Nose-to-tail-Grafiken zum Rindfleisch sowie Zeichnungen der Etiketten für die Tüten des Roggen-, Mais- oder Dinkelmehls.

Diversität in vielerlei Hinsicht

Der Hof profitiert nicht nur bei der Gestaltung von Prospekten, Plakaten und Etiketten von den vielfältigen Kompetenzen seiner Vereinsmitglieder. Ein Mitglied hat beispielsweise die Webseite programmiert, über die sich alle für ihre Arbeitseinsätze eintragen können. Andere halten die Entwicklung des radiesli mit Fotos oder Videos fest, schmücken die Wände mit Kunstwerken, die aus Wurzelstrünken gefertigt sind, oder wirken beim sogenannten Jätkonzert mit: «Ein Traktor mit einem Klavier fährt voraus, die Mitglieder folgen beim Jäten der Musik», schildert Marion Salzmann.

Vielfalt und Unterschiede werden auch im Umgang mit den Mitgliedern des Vereins und der Hofgruppe hochgehalten. So handelt es sich bei den Betriebsbeiträgen, die für die Ernteanteile berechnet werden, um Richtpreise. Wer es sich leisten kann, zahlt etwas mehr, sodass es möglich wird, Personen mit schmalerem Budget eine Ermässigung zu gewähren. Auch der Lohn der fünf Hofgruppenmitglieder fällt für alle unterschiedlich aus, da er sich nach ihrem Bedarf richtet: Wer beispielsweise in einer WG lebt oder durch eine Teilzeitanstellung bereits einen Lohn bezieht, erhält etwas weniger als eine Person, die Miete für eine ganze Wohnung zu zahlen hat. «Das funktioniert, weil wir uns vertrauen und niemand den anderen einen unangemessenen Lebensstil vorwirft», erläutert Marion Salzmann. Ausserdem beschäftigt das radiesli derzeit einen Asylbewerber aus Afghanistan, dem es dank solidarischer Beiträge der Vereinsmitglieder während einiger Monate einen Lohn bezahlen kann.

 

Fein abgestimmtes Zusammenspiel auf dem Kulturland

Das vorwiegend in Handarbeit produzierte Gemüse wird praktisch vollständig an die Vereinsmitglieder verteilt. Hackfrüchte und Getreide aber werden maschinell bewirtschaftet, sodass hier die Ernte oft grösser ausfällt als der Bedarf der Vereinsmitglieder. Das Überangebot, maximal zehn Prozent der Produktion, verkauft radiesli an andere Initiativen wie die regionale Vertragslandwirtschaft Bern SoliTerre oder an Unverpackt-Läden.Die Vielfalt der Produkte entspricht nicht nur den Wünschen der Vereinsmitglieder, sondern ist zugleich Voraussetzung und Resultat einer bodenschonenden Bewirtschaftung. Über Jahre gleichbleibende Kulturen sind schlecht für den Boden, zudem bedingt die Fruchtfolge, dass auf den Feldern regelmässig Kleegraswiesen angesät werden. Diese reichern den Boden mit Stickstoff an, bauen Humus auf und liefern zugleich Nahrung für die neun Mutterkühe.

Nebst den landwirtschaftlich genutzten Flächen pflegt das radiesli auch zahlreiche wertvolle Landschaftselemente wie Hecken, Steinhaufen und Buntbrachen und leistet damit einen Beitrag an die Biodiversität: «Hier leben nun Feldlerchen, Falken und sogar ein Hermelin. Es ist schön zu sehen, wie viel sich innerhalb weniger Jahre bewegen lässt», beobachtet Marion Salzmann. Auch Landschaftsexperte Daniel Arn vom BAFU hebt die Vorteile von standortangepassten Bauernbetrieben mit geschlossenen Kreisläufen hervor: «Ein vielfältig aufgestellter Hof hat landschaftlich eine ganz andere Wirkung als ein konventioneller Betrieb. Diese kleinräumige Vielfalt ergibt eine sehr attraktive, abwechslungsreiche Landschaft.»

Die Mitglieder des radiesli-Vereins ihrerseits können sich nicht nur über die Vielfalt an teils seltenen Gemüse- und Getreidesorten freuen, sondern auch über kulturelle Angebote wie einen spassigen Bauernkalender, gelegentliche Kinoabende und andere gesellige Anlässe. Auch dürften sich die meisten Vereinsmitglieder einer gewissen Vertrautheit mit landwirtschaftlichen Kulturen rühmen: «Dein Gemüse kennt Dich», lautet das Motto des radiesli. Im Umkehrschluss werden radiesli-Mitglieder – anders als die Journalistin aus der Stadt – Schwarzwurzeln und Randen auch im Feld korrekt zu bestimmen wissen.

Fazit

Solidarische Landwirtschaftsprojekte wie der Radieslihof in der Nähe von Bern setzen sich gemeinsam für die nachhaltige Produktion regionaler Lebensmittel ein. In der Deutschschweiz gibt es derzeit 15 solche Initiativen. Je nach Betrieb erhalten die Mitglieder regelmässig Saison- und Lagergemüse, Mehl, Eier, Bio-Fleisch. Dass die Kundschaft hier selbst in die Produktion der Nahrungsmittel involviert ist, sensibilisiert sie für deren Wert, so fällt weniger Food Waste an.

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Letzte Änderung 21.12.2022

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