Gefährdungskarte Oberflächenabfluss: Hilfreiches Instrument gegen unterschätzte Wassergefahr

Nicht nur überlaufende Bäche, Flüsse und Seen verursachen Schäden, sondern auch oberflächlich abfliessendes Wasser. Eine neue Gefährdungskarte zeigt erstmals die Risiken für jeden Ort in der Schweiz auf.

Text: Mike Sommer

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Wer ein Haus besitzt, stellt sich irgendwann die Frage, welche Naturgefahren die Liegenschaft bedrohen könnten. Informationen zur Gefährdung durch Lawinen, Sturzprozesse, Rutschungen, Erdbeben oder Wasser findet man im Internet auf den Geoportalen der Kantone und des Bundes. Eine Gefahr ist aber bisher kaum beachtet worden – der Oberflächenabfluss. Damit wird Wasser bezeichnet, das bei besonders starken oder langanhaltenden Niederschlägen nicht mehr im Boden versickern beziehungsweise über Kanalisationen, Bäche und Flüsse abfliessen kann. Stattdessen nimmt es den kürzesten Weg über Wiesen oder Strassen talwärts. Das sieht meistens unspektakulär aus, aber harmlos sind solche Ereignisse nicht. Auch wenn oberflächlich abfliessendes Wasser in der Regel nur eine Tiefe von wenigen Zentimetern erreicht, verursacht es bis zu 50 Prozent aller Überschwemmungsschäden. In «normalen» Jahren ohne gravierende Hochwasserkatastrophen beläuft sich die entsprechende Schadensumme – gemäss Schätzungen der Versicherungswirtschaft – auf etwa 50 bis 70 Millionen Franken. Genauere Zahlen sind jedoch nicht verfügbar. Die Angaben erhärten sich indes auch aufgrund von Erfahrungen aus dem Ausland. Läuft Wasser in eine Tiefgarage, einen Keller oder in ebenerdige Räume, wird die Rechnung für die Versicherungen schnell einmal teuer.

Modelliertes Extremereignis

Informationen zum Oberflächenabfluss hat es bis vor Kurzem nur für wenige Gebiete gegeben. Nun ist die Lücke geschlossen. Nach der schweizweiten systematischen Erfassung der erforderlichen Daten hat das BAFU zusammen mit dem Schweizerischen Versicherungsverband SVV und der Vereinigung Kantonaler Gebäudeversicherungen VKG Anfang Juli 2018 eine flächendeckende Gefährdungskarte veröffentlicht, die im Internet frei zugänglich ist (www.map.geo.admin.ch > Geokatalog > Natur und Umwelt > Naturbedingte Risiken > Gefährdungskarte Oberflächenabfluss). Wer damit das Risiko für eine beliebige Parzelle abschätzen will, muss allerdings wissen, dass die Gefährdungskarte auf einer reinen Modellierung beruht. Dies im Gegensatz zu einer Gefahrenkarte, deren Aussagen im Gelände mit grossem Aufwand verifiziert worden sind.

Die Gefährdungskarte Oberflächenabfluss zeigt auf, welche Flächen bei einem extremen Niederschlagsereignis, wie es an einem Ort etwa alle 100 Jahre vorkommt, von fliessendem oder stehendem Oberflächenwasser betroffen wären. Zudem enthält sie Angaben über die zu erwartende Wassertiefe für diese Flächen. Fachleute haben diese Informationen aus digitalen Daten zu den Eigenschaften des Bodens und des Terrains sowie zur angenommenen Niederschlagsmenge modelliert.

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Wichtige Verifizierung vor Ort

Falls das eigene Haus in einem von Oberflächenabfluss bedrohten Bereich steht, ist eine konkrete Risikoabschätzung vor Ort unerlässlich. «Solche Abklärungen sollten Spezialisten vornehmen», empfiehlt Roberto Loat von der Abteilung Gefahrenprävention des BAFU. Die Gefährdungskarte Oberflächenabfluss sei ab 2009 in mehreren Testgemeinden entwickelt und ihre Aussagekraft überprüft worden – im Kanton Luzern seit 2016 auch grossflächig. «Dabei haben wir festgestellt, dass die Modellierung die tatsächlichen Verhältnisse im Gelände sehr gut darstellt», fasst Roberto Loat die bisherigen Erfahrungen zusammen.

Eine Feldanalyse dürfte also in den meisten Fällen bestätigen, was auf der Karte dargestellt ist. Einige Einschränkungen sind dennoch zu beachten. So berücksichtigt die Modellierung keine Schutzbauten, Strassenunterführungen oder Durchlässe in Bahndämmen. Vorsicht ist ausserdem bei der Interpretation in städtischen Bereichen angebracht, da sich die Auswirkungen von Kanalisationen, Strassen und Bauten nur beschränkt modellieren lassen. Ein durch Laub oder Hagelkörner verstopfter Abfluss etwa gehört zu den Phänomenen, die man nicht verlässlich voraussagen kann und deren Auswirkungen einen gravierenden Einfluss auf das Abflussverhalten haben können.

Massnahmen frühzeitig planen

Mit der Gefährdungskarte Oberflächenabfluss haben Grundeigentümer, Planerinnen und Architekten nun also ein Instrument in der Hand, um die Risiken besser abzuschätzen. Bei ihrer Arbeit stellt sich die Frage nach den geeigneten Massnahmen zum Schutz gefährdeter Objekte. Solche Massnahmen seien meistens recht einfach zu realisieren, da die Wassertiefe im Ereignisfall oft nur gering sei, sagt Roberto Loat: «Man sollte aber bedenken, dass nur auf permanente oder automatische Schutzvorrichtungen wirklich Verlass ist.» Wer vor seinem Kellerfenster vor jedem Gewitter eigenhändig eine Schutzvorrichtung montieren müsse, werde irgendwann im entscheidenden Moment nicht zu Hause sein.

Und noch eine Empfehlung hält der Risikospezialist des BAFU bereit: «Um nachträgliche und teure Projektanpassungen zu vermeiden, sollten Schutzmassnahmen möglichst früh in die Planung eines Gebäudes einbezogen werden, also vor der Einreichung des Baugesuchs.» Denn auch wenn die Gefährdungskarte nur Hinweis-Charakter hat, kann die Baubehörde sie für die Beurteilung eines Gesuchs beiziehen und beispielsweise Schutzmassnahmen verlangen – immer unter Wahrung der Verhältnismässigkeit.

Alle sind gefordert

Neben der Frage nach der Verbindlichkeit der Karte für Grundeigentümerinnen und Grundeigentümer stellt sich auch diejenige nach der Verbindlichkeit für die Behörden – ob also beispielsweise Gemeinden und Kantone bei der Festlegung ihrer Bauzonen die potenziellen Gefahren durch Oberflächenabfluss berücksichtigen müssen. «Wir stellen mit der Gefährdungskarte die Grundlagen zur Verfügung, doch deren Anwendung liegt in der Kompetenz der Kantone», betont Roberto Loat. Mehrere Kantone würden die Gefährdungskarten Oberflächenabfluss in einer ersten Phase als behördenverbindlich erklären, sagt er. Weitere könnten mit der Zeit folgen.

Pionierprojekt mit 3 P

Pionierprojekt mit 3 P

«Naturgefahren werden beim Planen und Bauen im Allgemeinen immer noch zu wenig berücksichtigt», sagt Roberto Loat von der Sektion Risikomanagement des BAFU. Als wichtigste Zielgruppe der Gefährdungskarte Oberflächenabfluss nennt er deshalb Planer und Architektinnen.

Initiant und Auftraggeber der flächendeckenden Gefährdungskarte Oberflächenabfluss ist das BAFU. Die Analyse der Hochwasserereignisse im August 2005 brachte die Bedeutung der zuvor unterschätzten Gefahren durch oberflächlich abfliessendes Wasser an den Tag. Ab 2009 entwickelten Fachleute die Methodik zur Modellierung des Oberflächenabflusses in mehreren Testgemeinden und überprüften deren Aussagekraft. Anfang 2016 stellte der Kanton Luzern in Absprache mit dem BAFU als erster eine kantonale Gefährdungskarte online.

Für die Erstellung der gesamtschweizerischen Karte konnte das BAFU den Schweizerischen Versicherungsverband (SVV) und die Vereinigung Kantonaler Gebäudeversicherungen VKG als Partner gewinnen. Als Private Public Partnership (PPP) zwischen der Versicherungsbranche und einer Bundesstelle habe das Projekt im Bereich Naturgefahren Pioniercharakter, hält Roberto Loat fest.

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Letzte Änderung 28.11.2018

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