Rhonekorrektion: Auf der Suche nach dem goldenen Mittelweg

In Visp (VS) steht die erste Etappe der 3. Rhonekorrektion vor dem Abschluss. Zentrales Anliegen ist der Hochwasserschutz, doch finden dabei auch Naturanliegen mehr Beachtung. Der Beteiligung aller Akteure kommt dabei eine grosse Bedeutung zu.

Text: Martin Arnold

Aufgeweitete Rhone bei Visp
© Kanton Wallis

Bei einem sommerlichen Augenschein in der Nähe von Brigerbad (VS) ist es trocken und nahezu windstill an diesem brütend heissen Julitag. Doch vom Ufer des «Rottu» (Rotten), wie die Rhone im Oberwallis genannt wird, steigt eine kühle Brise auf, welche die Umgebungsluft mit ihren 37 Grad etwas erträglicher macht. Die letzten Schneefelder des Winters und tauende Gletscher sorgen für viel Schmelzwasser im Fluss. «Deshalb ist der Wasserstand gegenwärtig eher hoch, ansonsten würde man die Reste des alten Damms besser sehen», erklärt Rudolf Pesch, stellvertretender Leiter des kantonalen Amtes für Rhonewasserbau im Wallis. Dabei deutet er in Fliessrichtung auf die Mitte der reissenden Rhone, wo diese doppelt so breit ist wie flussaufwärts.

Wir stehen am Endpunkt des alten Flussbetts und am Anfang der sogenannten linearen Aufweitung auf gut 190 Meter, die dem Wasser mehr Platz einräumt, zumal auch die Sohle von 34 auf 60 Meter verbreitert wird. Hier beginnt das Los 7 der prioritären baulichen Massnahme, die auf einer Länge von 8 Kilometern vorgezogen wurde, weil bei einem Hochwasser ohne diesen Schutz in der Region mit Schäden von bis zu 3 Milliarden Franken zu rechnen wäre. Denn in diesem Gebiet befinden sich grosse Firmengelände wie etwa dasjenige der Lonza und weiterer Unternehmen in einem dicht überbau­ten Siedlungsgebiet. Andererseits verschärft der vor Ort in die Rhone mündende Nebenfluss Vispa die Gefahrensituation zusätzlich. Aufgrund des hohen Risikos wurde der Hochwasserschutz so ausgelegt, dass eine Überschwemmung im Mittel nur alle 1000 Jahre zu erwarten ist.

Ein verletzliches Gebiet

Im Herbst 2000 rückte die Verletzlichkeit der bestehenden Schutzbauten schlagartig ins Bewusstsein der lokalen Bevölkerung. Damals verursachten Überschwemmungen durch die Talflüsse auch in der Umgebung von Visp grosse Schäden. Ein Blick aus leicht erhöhter Lage bei Baltschieder genügt, um festzustellen, wie eng das Rhonetal hier ist. In der Ebene drängen sich Industriebauten, Wohnhäuser, Schienenstränge und bald auch eine Autobahn. Dank den neu ergriffenen Massnahmen sind nun 160 Hektaren bebautes Siedlungsgebiet zusätzlich geschützt.

Konkret bedeutet dies bei Visp eine Erhöhung der maximalen schadenfrei­-en Durchflussmenge der Rhone von 520 auf 790 Kubikmeter Wasser pro Sekunde. Nach Einmündung der Vispa beträgt die Kapazität sogar 1200 Kubikmeter und somit 50 Prozent mehr als vor den baulichen Massnahmen.

Neben Visp definierten die Bauverantwortlichen in der Flussebene weitere prioritäre Massnahmen – so in Siders, Sitten, Martigny sowie im Chablais-­Gebiet und im Rhonedelta. Gleichzeitig initiierten die Behörden mit dem Generellen Projekt der 3. Rhonekorrektion ein Gesamtvorhaben. Die 162 Kilometer lange Flussstrecke beginnt bei Oberwald im Obergoms und endet mit einem neu gestalteten Delta im Genfersee. Innerhalb dieses Projekts gibt es vorgezogene Massnahmen, die man dort in Angriff nimmt, wo bei einem Katastrophenfall durch einen Dammbruch Todesgefahr für Menschen in Siedlungen und Häusern besteht.

Wie im Falle von Visp ist die 3. Rhonekorrektion ein Hochwasserschutzprojekt. Doch moderner Hochwasserschutz bedeutet nicht nur die Verbreiterung der einst zu schmal gebauten Flussläufe, damit bei anhaltenden Starkniederschlägen mehr Wasser abfliessen kann. Gemäss der Gewässerschutzverordnung ist einem Fluss auch der für die natürlichen Funktionen des Gewässers benötigte Platz einzuräumen. Durch die Aufweitungen ergeben sich willkommene Synergien zwischen Hochwasser- und Naturschutz.

Erheblicher Landbedarf

Grundlage für die prioritären Massnahmen und die gesamte 3. Rhonekorrektion ist ein Dringlichkeitsraster. Sowohl bei den vorgezogenen Arbeiten wie auch beim Gesamtprojekt arbeitet die Bauherrschaft mit internen und lokalen Begleitgruppen zusammen. In den internen Begleitgruppen nehmen Mitarbeitende von verschiedenen kantonalen Dienststellen teil, bei lokalen Begleitgruppen sind Gemeindevertreter und -vertreterinnen, die Umweltverbände WWF und Pro Natura, die Landwirtschaft sowie andere Interessierte wie Privatpersonen eingebunden. Die Gruppen diskutieren über das Gesamtprojekt und über einzelne Vorhaben, wobei es um eine ausgleichende Berücksichtigung der unterschiedlichen Interessen geht.

Widerstand gab es von verschiedenen Seiten, da der Landbedarf durch die Verbreiterung des Flussbettes um den Faktor 1,6 bis 1,7 erheblich ist. Ein wichtiges Ziel der Wasserbauingenieure besteht darin zu verhindern, dass bauliche Massnahmen die Hochwassergefährdung flussabwärts womöglich erhöhen. Sie analysieren deshalb die Wirkung jeder Massnahme auf die nächsten Abschnitte.

Die Flussbetterweiterung gestaltet sich nicht immer einfach, denn das Bauen beinhaltet mehr als die blosse Verschiebung von Dämmen. Die früheren Wasserbauingenieure hatten den Fluss nämlich in ein enges Korsett gezwängt, worauf die vermehrte Nutzung das Tal in ein dicht bebautes und landwirtschaftlich intensiv genutztes Gebiet überführte. Deshalb sind die Möglichkeiten für ökologische Aufweitungen limitiert. Mit Ausnahme des Pfynwaldes, wo der gefürchtete Wildbach Illgraben einst eine Kanalisierung verhinderte, sind grosse unbebaute Flächen im Wallis und im Anrainerkanton Waadt rar. Trotzdem sagt Wasserbauingenieur Pesch: «Wir planen etwa 15 punktuelle Aufweitungen, die der Rhone im Vergleich zur heutigen Situation eine bis zu zehnfache Breite zugestehen. Hier kann sich die Natur entfalten.»

Generell zu teuer?

Potenziell sind im Walliser Talboden zwar 100 000 Menschen vom Hochwasser bedroht, und Experten sprechen im Katastrophenfall von einer möglichen Schadenssumme, die 10 Milliarden Franken übersteigen könnte. Dennoch weckte die Aussicht, der Rhone Land zur Verfügung stellen zu müssen, von Beginn an Widerstand. Es gibt im Wallis Gruppen, die das Projekt generell für zu teuer halten, belaufen sich die auf etwa 4 bis 5 Jahrzehnte verteilten Gesamtkosten doch auf rund 3,6 Milliarden Franken. Andere argumentieren, die Rhone brauche nicht mehr Platz, es genüge, ihre Sohle abzusenken. Doch Untersuchungen der Walliser Wasserbauingenieure belegen, dass dies auf langen Strecken nicht funktioniert. Schlimmstenfalls sinkt dadurch auch der Grundwasserspiegel mit ab, und auf setzungsempfindlichen Böden würde die Stabilität der Gebäude in der Umgebung leiden.

Dennoch ist die 3. Rhonekorrektion eine Kombination aus Sohleabsenkungen und Flussaufweitungen. Vertiefungen des Flussbetts finden dort statt, wo in Ufernähe der erforderliche Platz für eine Aufweitung fehlt – so wie in Visp im Bereich des weitläufigen Lonza-Geländes und weiterer Überbauungen. Als Ausgleich für die Natur wurde der Zufluss der Vispa geknickt, sodass sie nicht mehr rechtwinklig, sondern in einem spitzen Winkel in den Rotten mündet. Am Zusammenfluss bildet sie ein kleines Delta, das der Kanton mit einheimischen Dornengewächsen begrünen will, damit Flora und Fauna hier eine Nische finden können.

Wettbewerb für Lösung

Die Komplexität der Rhonekorrektion verlangt von sämtlichen Beteiligten eine grosse Kompromissbereitschaft. Denn Industrie, Gemeinden, Landwirtschaft, Erholungssuchende, Umweltvertreter, die Energiebranche sowie weitere Besitzer von Infrastrukturanlagen sind alle von den baulichen Schutzvorkehrungen betroffen. Carlo Scapozza, Hochwasserschutz-Experte beim BAFU, weiss um die Spannungsverhältnisse zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen bei grossen Flussbauprojekten. «Deshalb ist die Partizipation dieser Interessengruppen wichtig», stellt er fest. «Es muss ein Ausgleich gefunden werden. Das kostet allerdings Zeit und macht eine Priorisierung und Etappierung sinnvoll.»

Die prioritären Massnahmen wie auch die Partizipation rund um Visp haben die Funktion eines Pilotprojekts. Am Rotten oberhalb von Visp hat die Diskussion über die Feingestaltung begonnen, die für den Rest der Strecke wegweisend sein wird. Wie soll die Dammkrone aussehen? Soll darauf über weite Strecken der Fahrradweg Nr. 1 von Schweiz Mobil – dem Netzwerk für den Langsamverkehr – führen? Inlineskater hätten sie am liebsten asphaltiert, doch den Umweltvertretern würde ein Kiesweg reichen. Die einen wollen einen Weg mit mehr als 2 Meter Breite, anderen genügt 1 Meter. Um die beste Lösung zu finden, lancierte der Kanton einen Wettbewerb. «Die Erfüllung aller Wünsche ist die Quadratur des Kreises», meint der stellvertretende Amtsleiter Rudolf Pesch. Die Dammbepflanzung erfolgt nur mit einheimischen Pflanzen, und die Natur erhält insofern freien Lauf, als man den Unterhalt auf das Notwendigste beschränken will. Entscheidend für den Erfolg des Gesamtprojekts ist für Rudolf Pesch ein Ausgleich aller Interessen. «Wir sind nur die Moderatoren mit dem Fachwissen im Hochwasserschutz, aber diese Korrektion ist ein grosses, viele Bereiche der Gesellschaft betreffendes Projekt. An seiner Verwirklichung sollten deshalb möglichst viele Akteure teilnehmen.»

Die Versöhnung mit der Rhone

Die Flussaufweitung bei Visp wird aus Sicht des Naturschutzes bestimmt nicht das schönste Projekt an der Rhone sein. Doch der kantonale Wasserbauingenieur Rudolf Pesch ist davon überzeugt, dass die ansässige Bevölkerung den Gewinn dieser neuen Flusslandschaft erkennt. «Dies wird die Akzeptanz der 3. Rhonekorrektion erhöhen. Die Leute werden die renaturierten Flächen annehmen, und ich bin überzeugt, dass der Widerstand bei Folgeprojekten geringer ausfällt.»

Der Widerstand hat aber auch historische Gründe. Wo immer man sich an der Rhone auf den Damm begibt, sind heute höchstens einige Reiterinnen oder Hundehalter unterwegs. Die Menschen geniessen ihre Freizeit lieber hinter den Dämmen – etwa in den Wäldern oder an Baggerseen. Die kanalisierte Rhone wirkt im von ihr geprägten Tal wie ein Fremdkörper. «Sie bringt Überschwemmungen und Tod. Wer hineinfällt, kann sich nicht retten. Es haben sich auch schon viele Menschen in der Rhone das Leben genommen», weiss Rudolf Pesch.

Doch flachere Dammböschungen sowie langsamere Fliessgeschwindigkeiten werden die Attraktivität der Rhone künftig erhöhen. In Chippis, Sitten und Bex wird es direkte Zugänge zum Fluss geben. Wie dies dereinst genau aussieht, soll ein Wettbewerb klären. Entstehen werden neue Freizeitorte, wohin Menschen in der Gluthitze der Walliser Sommermonate fliehen können. So bietet der neue Hochwasserschutz gleichzeitig auch eine Chance, dass sich die Walliser und die Waadtländer Bevölkerung mit dem Gewässer, das ihr Leben so stark prägt, versöhnen kann.

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Letzte Änderung 04.03.2020

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