Die Malerei hat unser Idealbild der Landschaft geprägt. Allerdings leistet diese viel mehr, als uns «nur» ästhetischen Genuss zu bereiten.
Text: Lucienne Rey
Die Sehnsucht nach der idyllischen Landschaft ist mindestens so alt wie die bildlichen Überlieferungen antiker Hochkulturen: Wandmalereien, rund 1300 Jahre vor unserer Zeitrechnung in altägyptischen Grabkapellen aufgetragen, zeigen Jagdszenen im Papyrusdickicht und paradiesartige Anlagen – ein Zeugnis der engen Verflechtung zwischen idealisierter Landschaft, religiösen Werten der Gesellschaft, Emotionen der Menschen und ihrem ästhetischen Empfinden.
Heute ist der Blick auf die Landschaft nüchterner, aber ebenso vielschichtig. So definiert sie der Europarat in seiner Landschaftskonvention aus einer ganzheitlichen Perspektive als «ein Gebiet, wie es vom Menschen wahrgenommen wird und dessen Charakter das Ergebnis der Wirkung und Wechselwirkung von natürlichen und/oder menschlichen Faktoren ist».
Die Landschaft bietet dem Menschen nicht nur ästhetischen Genuss, sondern stärkt auch seine Gesundheit, stiftet Gefühle der Verbundenheit und trägt damit zur räumlichen Identifikation bei und fördert die Wirtschaftskraft einer Region.
Dass diese vier zentralen Leistungen der Landschaft mittlerweile weitherum anerkannt sind, ist nicht zuletzt auf die Diskussion über die Ökosystemleistungen zurückzuführen, wie sie ab den 1990er-Jahren in Gang gekommen ist. Den Anstoss dazu gaben Überlegungen aus der Umweltökonomie, wonach auch Funktionen der Natur, die der klassischen Wirtschaftswissenschaft zufolge kostenlos zur Verfügung stehen, mit einem Preis zu versehen seien. Nur so könnten sie nämlich als handelbare Güter in den Wirtschaftskreislauf einfliessen.
Folglich begann die Wissenschaft, den vielfältigen Nutzen von Ökosystemen zu klassifizieren – Arbeiten, die im Jahr 2001 lancierten Millennium Ecosystem Assessment gipfelten. Diese durch die Vereinten Nationen unter der Präsidentschaft von Kofi Annan begonnene Studie zum Zustand der Umwelt verankerte den Ausdruck der Ökosystemleistungen im Wortschatz der Fachwelt.
Aus der Forschung gelangte dieser Ansatz in die schweizerischen Strategien zu Biodiversität und Landschaft. «Die Landschaftsleistungen sind dabei eine Weiterentwicklung der Ökosystemleistungen», bestätigt Roger Keller, der als Geograf an der Universität Zürich erforscht, was die Landschaft zum Florieren von Wirtschaft und Gesellschaft sowie zum individuellen Wohlbefinden alles beiträgt.
Bestrebungen, die vielfältigen Leistungen von Ökosystemen in Geldwert auszudrücken, sind allerdings umstritten, und Landschaftsleistungen sind monetär kaum zu fassen. Zwar lässt sich beispielsweise die Funktion des Waldes als Filter für sauberes Trinkwasser zumindest theoretisch mit einem Preisschild versehen, indem sie mit den Kosten für eine entsprechende Infrastruktur verglichen wird. Die vier zentralen Landschaftsleistungen hingegen stehen in enger Wechselwirkung miteinander und können nicht ersetzt werden. Deshalb braucht es ein stärkeres Bewusstsein für den gesellschaftlichen und individuellen Wert dieser vier Landschaftsleistungen, die in den folgenden Porträts ausgelotet werden.
Identifikation
«Das Hudelmoos bei Zihlschlacht ist etwas ganz Besonderes. Ich geniesse den federnden Boden unter den Füssen und liebe den würzigen Geruch. Auch die Geräusche sind wunderbar. Es ist etwas Geheimnisvolles um dieses Moos, in dem man sich bei Nebel durchaus verirren kann! Zugleich nehme ich aber auch die Narben der früheren Torfnutzung wahr, die uns zum sorgsamen Umgang mit diesem Lebensraum ermahnen. Daher wünschen wir uns keine Besuchermassen, sondern heissen diejenigen willkommen, die die Schönheit dieser Landschaft zu schätzen wissen.»
Heidi Grau-Lanz | Gemeindepräsidentin von Zihlschlacht-Sitterdorf (TG) und Kantonsrätin FDP des Kantons Thurgau
Landschaften sind von ihrer Geschichte geprägt und somit verknüpft mit dem Werdegang der Menschen, die in ihnen leben: Dass beispielsweise die Tante auf dem Heimweg von der Schule die schönsten Wildblumensträusse zu pflücken pflegte und der Grossvater im Sudeltrog des Dorfbrunnens seine Stiefel reinigte, gehört zu den Erzählungen, die an die nächsten Generationen weitergegeben werden.
Das Wissen um den Entstehungszusammenhang bestimmter Elemente in der Landschaft verstärkt deren identifikatorische Wirkung. So handelt es sich bei den sanften, streifenförmigen Erhebungen in der thurgauisch-fürstenländischen Kulturlandschaft, auf denen heute oft Naturwiesen wachsen oder Hochstamm-Obstbäume stehen, um sogenannte Wölb- oder Hochäcker. Sie entstanden im Mittelalter dadurch, dass die damaligen Pflüge mit ihren feststehenden Streichbrettern die Erde nur auf eine Seite ablegen konnten und zudem schwer zu wenden waren. Die Bauern pflügten in langen ovalen Bahnen um das Zentrum eines Ackers herum. Im Laufe der Zeit häufte sich humusreicher Boden als Kuppe an, während an den Rändern Senken entstanden, die als Drainage wirkten. Über diese – und andere – Besonderheiten sollte die Bevölkerung besser informiert sein, lautete ein Fazit aus einer im Auftrag des BAFU durchgeführten Studie. Es fehle nämlich das Bewusstsein für das Einzigartige dieser Hochäcker, und wenn die Bevölkerung auf die Landschaft stolz sei, setze sie sich auch für deren Erhalt ein.
Gefühle der Verbundenheit stärkt die Landschaft aber nicht nur im historischen Rückblick. Denn auch wenn sie sich entwickelt, können sich ihre Bewohner mit ihr identifizieren: «Die Veränderungen dürfen allerdings nicht zu schnell erfolgen, und die Qualität des Wandels spielt eine grosse Rolle», so Landschaftsforscher Roger Keller. Insbesondere in städtischen Quartieren lässt sich vielerorts erfahren, dass ein umgestalteter Platz, der neu zum Verweilen einlädt, bei der Bevölkerung gut ankommt. Wenn sie sich zudem an der Umgestaltung «ihrer» Landschaft beteiligen darf, fördert das die Akzeptanz für die Veränderung – und die Zugehörigkeit zum Neuen.
Ästhetik
«Niemand bleibt von der Erhabenheit des Lavaux unberührt. Die besondere Stimmung ist in erster Linie auf das rasch wechselnde Licht zurückzuführen, etwa, wenn nach einem Sturm die Sonne durch die Wolken bricht. Es ist eine vom Menschen gestaltete Landschaft mit überraschenden Perspektiven: Wer sich mitten in den Reben wähnt, ist oft verblüfft, ganz in der Nähe eines der Dörfer zu entdecken, die sich in die Landschaft einkuscheln, kompakt gebaut, um so wenig Platz wie möglich zu beanspruchen.»
Gérald Vallélian | Gemeindepräsident von St-Saphorin (VD), Vizepräsident von Lavaux Patrimoine sowie Biowinzer und Kellermeister auf dem Weingut «Domaine des Faverges»
Sein ursprünglicher Herkunftsort, die Savanne, habe dem Menschen die Vorliebe für offene, mit Baumgruppen, Wasserläufen und erhöhten Aussichtspunkten versehene Landschaften beschert. So zumindest lautet eine klassische Theorie der Landschaftswahrnehmung. Denn solche Gebiete boten in vorgeschichtlicher Zeit optimale Bedingungen, um zu jagen oder zu fischen – und sich selber vor Beutegreifern zu verstecken.
Die Bedürfnisse des heutigen Homo sapiens unterscheiden sich zwar von denen seiner Vorfahren. Doch gewisse landschaftliche Präferenzen blieben erhalten. «Ein Aussichtspunkt ist wichtig, und Gewässer werden gemeinhin als schön empfunden», bestätigt Roger Keller, Landschaftsforscher am Geographischen Institut der Universität Zürich. Im Lavaux (VD) materialisiert sich dieses Ideal: Der Lac Léman liegt tief und wird eingerahmt von den terrassierten Rebhängen am nördlichen Ufer, während sich auf der gegenüberliegenden Seite die Alpenkette zeigt. Überschaubarkeit und somit eine gute Lesbarkeit, welche die Orientierung im Raum erleichtert, sind ebenfalls gegeben.
Die Vielfalt diverser Elemente macht den Reiz dieser Landschaft aus. «Kompakte und homogen wirkende Dörfer stehen im Kontrast zur strukturierten Fläche der Rebhänge mit ihren Mauern», erläutert Roger Keller. Hinzu kommt, dass nicht nur die materiellen Bestandteile der Landschaft abwechslungsreich sind, sondern auch die Lichtverhältnisse: Der sich in seiner Länge von Osten nach Westen erstreckende See schimmert je nach Sonnenstand in den unterschiedlichsten Schattierungen von Schiefergrau über opalisierendes Blaugrün bis ins Silberne. Die Vegetation trägt zum Farbenspiel bei: «Besonders gerne werden Fotos im Herbst gemacht, wenn sich die Blätter der Reben gelb gefärbt haben», weiss der Experte.
Ihren Charme bewahrt sich eine Landschaft aber keineswegs durch Stillstand. «Bewohnerinnen und Bewohner schätzen die Schönheit des Lavaux sehr», hat Roger Keller erfahren. Dass dieser ästhetische Genuss durch ein Zusammenspiel von Erhaltung und Weiterentwicklung der Landschaft entsteht, soll auch den Feriengästen noch stärker vermittelt werden.
Standort
«Fläsch konzentriert sich darauf, ein Wohnort zu sein, Gewerbezone gibt es keine. Die Grünflächen wurden aus der Bauzone ausgeschieden, sodass Reben und Obstgärten und damit der Charme des alten Weinbaudorfes erhalten bleiben. Wird etwas neu gebaut, muss es zum Ortsbild passen. Das wird geschätzt: Viele Menschen sind hierhergezogen, und auch die 2017 eröffnete orthopädische Klinik Gut hat sich wegen der hohen Lebensqualität für Fläsch entschieden.»
René Pahud | Gemeindepräsident von Fläsch (GR)
Ob ein Standort der Wirtschaft nützt, hängt stark mit seinen landschaftlichen Qualitäten zusammen: «Wer seinen Wohnort wählt, wünscht sich gute Erreichbarkeit und hohe Lebensqualität», bestätigt Landschaftsforscher Roger Keller. Entsprechend erzielen Wohnungen in einer ruhigen Umgebung mit schöner Aussicht nachweisbar mehr Mieteinnahmen: Die Zürcher Kantonalbank etwa berechnete für sehr gute Seesicht oder für Hanglagen mit Nachmittags- und Abendsonne durchschnittlich um 5 Prozent höhere Mieten. Der Blick auf störende Elemente wiederum drückt den Mietpreis. Besonders unbeliebt sind Hochspannungsleitungen, wo neben der ästhetischen Beeinträchtigung auch die Angst vor allfälligen negativen Auswirkungen des Elektrosmogs ins Gewicht fällt. Mit einer Preisminderung von 3 Prozent muss rechnen, wer eine Wohnung vermieten will, die weniger als 150 Meter von einer solchen Leitung entfernt ist.
Hoch qualifizierte Arbeitskräfte können sich teures Wohnen an attraktiver Lage mit guten Verbindungen zum nächsten Zentrum leisten, und die entsprechenden Gemeinden freuen sich über sprudelnde Steuereinnahmen. «In den ländervergleichenden Rankings der Lebensqualität ist die Schweiz immer top», weiss Roger Keller; die Landschaft spiele dabei eine wichtige Rolle, wobei es schwierig sei zu bestimmen, wie stark sie ins Gewicht falle.
Auf der Hand liegt die Bedeutung der Landschaft für den Tourismus. Bekannte Destinationen werben mit ihrem imposanten Panorama, den glitzernden Seen und anderen landschaftlichen Reizen. Allein der Kanton Wallis mit Destinationen wie Zermatt und Saas-Fee kam gemäss einer Studie des Walliser Tourismus Observatoriums aus dem Jahr 2014 auf 2,4 Milliarden Franken touristische Bruttowertschöpfung; für die ganze Schweiz betrug diese im gleichen Zeitraum knapp 18 Milliarden Franken. Auch abseits der Ferienorte von Weltruf ist es oft die Landschaft, die Gäste anzieht, obwohl sich die Zahlen vergleichsweise bescheiden ausnehmen. «Naturnaher Tourismus wird nie die gleichen Umsätze generieren wie der Massentourismus», hat Roger Keller beobachtet. «Aber für die betreffenden Regionen bietet er durch authentische Erlebnisse das Potenzial für zusätzliche Einnahmen» (siehe auch S. 28).
Gesundheit
«Das Alterszentrum Gibeleich im zürcherischen Opfikon hat einen grossen Garten. Darüber sind unsere Bewohnerinnen und Bewohner sehr glücklich – zumal sie immer später ins Heim eintreten, sodass sie nicht mehr so mobil und daher froh sind, wenn wir die Natur zu ihnen bringen. Auch ihr Besuch schätzt es, im Parkbereich flanieren zu können, und im Nutzgarten pflanzen wir vieles an, was wir später in der Küche verarbeiten. Ich selber tanke im Garten ebenfalls auf und geniesse es, den Wechsel der Jahreszeiten zu erleben!»
Irene Kuhn | Aktivierungsfachfrau HF und Gartentherapeutin CAS
Attraktive Landschaften, die die Menschen ins Freie locken und sie dazu anregen, sich zu bewegen, nützen der Gesundheit. Wer es sich zur Gewohnheit gemacht hat, seine Ziele zu Fuss oder mit dem Rad zu erreichen, bleibt tendenziell fitter und wird älter als körperlich inaktive Personen. Insbesondere bei Krankheiten, bei denen das Körpergewicht eine Rolle spielt, ist die heilsame Wirkung regelmässiger Bewegung unbestritten. In der Schweiz verhindern Aktivitäten auf dem Velo oder zu Fuss jährlich 12 000 Fälle von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, und auch bei Depressionen und Demenz trägt ein körperlich aktiver Lebensstil zur Vorbeugung bei. Dass der landschaftliche Reiz bei der Wahl einer Veloroute oder eines Spazierwegs erheblich ins Gewicht fällt, belegen verschiedene Umfragen.
Freilich gibt es nicht «die eine» Landschaft, die für alle Aktivitätsmuster sämtlicher Personen passt. «Die Erholungsbedürfnisse sind sehr unterschiedlich», bestätigt Roger Keller, Landschaftsforscher an der Universität Zürich: «Die einen möchten sich bewegen, die anderen suchen die Ruhe.» Mithin braucht es unterschiedliche «Freizeitlandschaften»: Wer Velo fährt, radelt nämlich mit grosser Wahrscheinlichkeit auch gerne durch ein gartenreiches Wohngebiet. Der Wunsch nach Stille und Erholung hingegen verlangt eher nach einer möglichst naturnahen Umgebung. Entsprechend vielfältig sind auch die Ansprüche an die Ausstattung eines Gebiets. Fuss- und Radwege braucht es für die Bewegungshungrigen, Bänke sind bei denjenigen beliebt, die gerne die Aussicht geniessen und die Landschaft auf sich wirken lassen möchten.
Nicht immer sind die verschiedenen Ansprüche reibungslos zu befriedigen. «Es gilt, über die Lenkung der Menschen nachzudenken», so Roger Keller. Auch im Interesse von Flora und Fauna, denn Fuss- und Radwege sollten nicht überall durch Naturschutzgebiete führen. Das Bedürfnis nach Naturerlebnissen und Outdooraktivitäten stehe teilweise noch zu wenig im Fokus der kantonalen Ämter, die sich über eine «Erholungsplanung» Gedanken machen müssten, so der Fachmann. Mit dieser Planung lassen sich Konflikte vermeiden und optimale Angebote gestalten.
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Letzte Änderung 02.09.2020